Die wiedergefundene Textstelle: „Bleicher Mond von Burma“

An Otto habe ich unter anderem bewundert, wie er Minuten damit zubringen konnte, Nummern anzusagen, die dann nie stattfanden, ohne dass das dem Publikum jemals auffiel. Er verschachtelte sogar unbemerkt mehrere einander widersprechende Ansagen. Stammten seine Texte auch weitgehend von der Neuen Frankfurter Schule, so war diese begnadete Masche ganz und gar sein Werk – ich habe sie jedenfalls vorher und nachher bei niemand anderem in so unverschämt konsequenter Weise vorgefunden.
Ich habe mich in dieser Technik einmal versucht, aber das Ergebnis hat sich rasch verselbständigt, und der der folgende Text aus dem Soloprogramm „Der Cabajazzo“ hat rein gar nichts mit Otto zu tun. Immerhin kündigte auch er einen Act an, der dann gar nicht stattfand, und wurde vom Publikum dennoch gut aufgenommen. Die Markierung ° bedeutet, dass eine mimische Darstellung des genannten Charakters eingebaut wird.

Eine Dampforgel kreischt*, der Stallmeister eines kleinen Wanderzirkus tritt auf sein sommernächtliches Podium und ruft diese Worte, um die Menschen in das Zelt zu locken …

Hochverehrtes Publikum, buntberockte Damen, wohlgenährte Herren! Herzlich willkommen im fliegenden Theater des Dr. Quecksilber! Freut euch, dass ihr heute abend hier seid, um euch die erstaunlichste Geschichte eures Lebens anzusehen!
Atmet nun die Luft einer fremden Welt, spürt die dichte Atmosphäre eines nie gekannten Alptraumes auf eurer Haut.
Schmeichelbare Damen, gehberockte Herren, erleben Sie hier die Abenteuer einer Gesellschaft harmloser Urlauber, die auf einem Passagierschiff in Burma – an Bord der „Suva Star“ – in einer drückend heißen Nacht auf dem Irawadi unterwegs ist, vorbei an den üppigen Gestaden der Grünen Hölle.
Die Luft ist voller Geräusche, tausend Gefahren lauern an diesen Ufern, hinter den Büschen, auf den Bäumen, in den Sümpfen: Schlingpflanzen, wilde Tiere und tödliche Insekten!
Doch es ist Frieden – der ewige Frieden des Dschungels.
An Bord der „Suva Star“ aber lauert die größte aller Gefahren, das grausamste und gefährlichste Ungeheuer dieser bizarren Welt: der Mensch!
Hier sitzen sie nun alle beisammen, die Passagiere, vom Schicksal auf engstem Raume zusammengepfercht, eine Handvoll Schachfiguren auf dem Spielbrett des Lebens unter dem Joch der brüllenden Hitze.
Nebukadnezar Moll, Geschäftsreisender – ein seltsamer Typ.°
Ty, ein gelb-schwarz karierter Wolf – jung und verdächtig.°
Daisy Feeling, Starlet – zu hübsch, um nicht gefährlich zu sein.°
Herr Schneider – er weiß zuviel!°
Hank Paravicini – hat etwas zu verbergen.°
Bertha Murray Palmer Haley – die nette alte Dame, die pausenlos nichts anderes tut, als zu beobachten.°
Horst Zunderbaum, der Kapitän – so, wie Kapitäne eben sind.°
Und: der Ägyptologe Stanley Watchford Jefferson Warburton Stewart, seit vier Minuten bei den Pharaonen – mit einem Messer im linken Lungenflügel.
Und der Mörder? Der ist mitten unter ihnen!
Hochverehrtes Publikum, versäumen Sie nicht die Schau des Jahres: „Bleicher Mond von Burma“, heute auf der Bühne des fliegenden Theaters von Dr. Quecksilber!

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* Ist keine Dampforgel zur Hand, spielt der Pianist bitte „The Thunderer“ von John Philip Sousa. Da ich selbst 1987 wiederum diese Noten nicht zur Hand hatte, wurde der Vortrag mit dem „Maple Leaf Rag“ von Scott Joplin unterlegt.

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