Die schönsten Hörspiele, die ich kenne (3): „Fahrerflucht“

„Fahrerflucht“ von Alfred Andersch, Musik: , Regie: Marcel Wall-Ophüls, Produktion:  SWF/RB 1957 – c.a. 54 min. – Besetzung und weitere Infos unter  https://krimikiosk.blogspot.com/2016/07/fahrerflucht-krimi-horspiel-von-alfred.html

Kentucky
Blaue Weide
Riesige rote Barns
manchmal von Tornados getroffen
Vollblut in Herden
Rappen
in blauem Gras.
Das harte Knappern
des weidenden Pferdemauls.
Orlando, Sieger des Derbys von Saratoga,
allein hinter weißem Staketenzaun.
Geruch von Sätteln
und Buchmacherei.
Gary Cooper, ehe er nach Hollywood ging,
und Henry Wallace, die Chancen einer sozialistischen
Agrarpartei erwägend
und verwerfend.

Die Schicksale dreier Menschen entscheiden sich an diesem Morgen – zwei davon in dem Augenblick, der ihrem weiteren Leben eigentlich eine kühne Wendung geben sollte.
Eine junge Verkäuferin wird auf dem Weg zu ihrer ersten Reitstunde von einem Auto erfasst und stirbt. Der Fahrer, ein schwer krebskranker Manager, begeht Fahrerflucht. Er will sich den Traum, seine letzten Monate frei von allen Verpflichtungen zu verbringen, nicht verderben. Auch ein Tankwart wird ins Geschehen verstrickt. Er hat hundert Mark für sein Schweigen kassiert, doch nun plagt ihn sein Gewissen …

Der legendäre Hörspiel-Autor Norman Corwin hat einmal festgestellt, dass von allen Goldenen Zeitaltern dasjenige des Rundfunks das kürzeste gewesen sei. Im Falle der deutschen Rundfunkgeschichte trifft das ganz besonders zu, denn zwischen dem Ende der nationalsozialistischen Gleichschaltung und dem Siegeszug des zu Weihnachten 1952 gegründeten Deutschen Fernsehens lagen nur ganz wenige Jahre. In dieser Zeit war das Hörspiel ein Programmpunkt, zu dem sich das Publikum vor dem Empfänger versammelte wie später nur noch zu Samstagabendshows und heute zum Public-Viewing hauptsächlich sportlicher Ereignisse. Große Literaten schrieben diese Hörspiele, Darsteller und Regisseure waren hochgeachtete Künstler, der Lyriker Günter Eich fand in dem Medium sogar zu seiner eigentlichen künstlerischen Bestimmung.
Von Alfred Andersch stammt das Hörspiel, das mich vielleicht am allertiefsten beeindruckt hat – als Zeitdokument, als Drama, als akustisches Gesamtkunstwerk.

Titel und Sujet zum Trotz ist „Fahrerflucht“ kein Krimi, sondern eine Montage aus drei Monologen sowie einiger kunstvoller Sprechchöre (in denen sich der junge Horst Frank versteckt hat) und eines coolen Soundtracks. Besonders der Solo-Text des Mädchens ist hochinteressant. Sein Zeitkolorit – das damalige Frauen(selbst)bild – wäre in aktuellen TV-Movies, die diese Zeit (die Wirtschaftswunder-Jahre) vorgeblich akkurat wiedergeben, völlig undenkbar. Den meisten heutigen Autoren sind diese Aspekte gar nicht bekannt, die übrigen würden sie als politisch unkorrekt vorsorglich  verwerfen. Dass „Fahrerflucht“ noch immer im Radioprogramm auftaucht – zumeist in der Krimi-Sparte – ist unter diesen Umständen nicht unerstaunlich. Der Text ist auch als Reclam-Heft zu haben.

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