Buddha vergessen (1/3)

Eine Urlaubsgeschichte

Klaus-Uwe war maulig. Das konnte ich gut verstehen.
Seine Ankunft im Hotel – unsere Ankunft – hatte mit Zahnweh begonnen. Das konnten ja heitere Ferien werden. Ich hatte mich als echter Leitwolf erwiesen und – mit Hilfe des Rezeptionisten und seines Internet-Anschlusses – einen Zahnarzt ausfindig gemacht, der sich ganz in der Nähe befand.
Klaus-Uwe lobte mich nicht dafür, und falls Susanne stolz auf mich war, so zeigte sie es nicht. Sie scannte mit einer raschen Drehung des Kopfes den Platz vor dem Hotel.
“Wo ist denn nun unser Mietwagen?“ fragte sie. „Sagtest du nicht, der würde schon dastehen?“
(Ursprünglich hatten wir nämlich geplant, die landschaftliche Schönheit dieser Touri-Hochburg aus dem fahrenden Auto zu erforschen.)
“Tut mir leid“, erklärte ich. „Irgendein platter Reifen oder sowas. Die schicken jemanden her, der uns einen neuen Wagen bringt. … Der müsste aber auch längst hier sein …“
“Hast du gehört, Klaus-Uwe? Müsste.“
Ich versuchte, Konversation zu machen und brachte das Gespräch auf den Film, den ich für unseren Herflug ausgesucht und auf meinem Laptop vorgeführt hatte.
“Hat Dir denn wenigstens der Trickfilm gefallen? Ich fand ‚Susi und Strolch’ ja immer großartig!“
“’Susi und Strolch’ ist doof“, korrigierte mich Klaus-Uwe. „Sind doch nur olle Zeichnungen.“
“Solange das Auto noch nicht hier ist, können wir nicht weg“, meinte Susanne und scannte noch ein bisschen.
“Aber das macht doch nichts“, wandte ich ein. „Die Arztpraxis ist doch nur zwei Minuten von hier. Sagt der Mann an der Rezeption …“
“Und was machen wir, wenn der Typ mit dem Wagen kommt, während wir beim Arzt sind? Der ist imstande und zischt wieder ab!“
“Dann geht ihr doch ohne mich zum Arzt“, schlug ich vor. „Ich bin euch sowieso keine Hilfe. Stattdessen warte ich hier auf den Mietwagen!“
Susanne sah etwas verdrossen aus – wie immer, wenn meine Logik nicht zu widerlegen war – und setzte sich mit einem leisen „Komm!“ in Bewegung, den kläglichen Klaus-Uwe hinter sich herziehend.

Als sie mit ihm zwischen den dichtgedrängten weißen Häusern mit den Kuppeldächern verschwunden war, befiel mich ein eigenartiges Gefühl. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich es benennen konnte: Ich war allein. Zum ersten Mal seit Beginn der Sommerferien war ich allein. Das einzige, was mich an meinen Normalzustand erinnerte, konnte ich erst nach einer kurzen Phase des Innehaltens benennen: es war der Duft meiner Sonnencreme.
Der Zeitpunkt war ideal. Der erste Urlaubstag setzt Vaterfiguren immer ein wenig unter Druck, und dieser Verlegenheit war ich nun entkommen.
Ich ahnte, dass unser Wagen noch eine Weile brauchen würde, aber ich konnte hier nicht weg. Was hätte ich auch großartig machen sollen – auf einer Insel, auf der es ganz sicher kein Schallplattenantiquariat gab?
Ich ließ den Blick schweifen und dachte nach, wie sich die Zeit am besten totschlagen ließ.

Irgendwo in westlicher Richtung gab es so etwas wie eine Altstadt, gleich neben einer alten rotbraunen Festung, die auf einer Landzunge lag.
Ich konnte sie nicht sehen, stattdessen entdeckte ich einen Mann, der ganz allein auf einer etwas unglücklich platzierten Bank saß – sie war nicht auf das Meer ausgerichtet, sondern auf die Hotelanlage. Der Mann starrte wie ein Ganescha auf den staubigen Parkplatz … Sie kennen doch diese molligen, elefantenköpfigen Kaufmanns-Schutzheiligen, die man in Andenkenläden findet? So sah er aus. – Na, ganz so war es nicht. Er war zurechtgemacht wie ein Pauschaltourist aus dem Rheinland, aber das wirkte wie eine Verkleidung. Er kam von ganz weit her – das sah ich sofort – und verströmte die Aura einer abgeschiedenen Bergregion.
Es war mir unmöglich zu erraten, was für ein Landsmann er wohl sein mochte.
Er mochte Ende fünfzig sein und war so dick, als käme er von dieser Bank ohne fremde Hilfe nicht wieder hoch. Doch er war nicht von dieser weichtierhaften, herabhängenden Verquollenheit, zu der wir Mitteleuropäer neigen, wenn wir in ein gewisses Alter kommen. Er wirkte edel, stattlich, beinahe schön in seiner Fülle. Bei irgendeinem weitgereisten Schriftsteller – Kipling? Maugham? … – hatte ich mal gelesen, dass Inder – oder waren es Burmesen? – nicht in der unsrigen Weise zunehmen (nämlich dort, wo es besonders unvorteilhaft aussieht und maximal im Wege ist), sondern symmetrisch. Wie eine schwellende Frucht.
Der Mann auf der Bank machte es vor.
Wenn ich das Susanne erzählt hätte, wäre sie mir bestimmt wieder mit ihrer political correctness gekommen: man darf die Menschen anderer Kulturen nicht beschreiben, nicht mal mit lobenden Worten.
„Das gehört sich nicht, hörst du? Das ist Kolonialstil!“
Soweit ich weiß, darf man inzwischen nicht einmal mehr andere Deutsche beschreiben, ohne dass irgendjemand einen Shitstorm loslässt.
Zum Glück waren beide gerade nicht in der Nähe, um mich zurechtzuweisen: weder Susanne noch die Netzgemeinde. Und so erwachte in mir jener romantische Trieb, der seit meiner letzten Junggesellen-Reise fast in Vergessenheit geraten war: der Wunsch, in die Geheimnisse ferner Gestade einzudringen.

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