Technicolor für die Ohren – Die Kunstkopf-Stereophonie (1/3)

betr.: Erstsendung des ersten Kunstkopf-Hörspiels „Demolition“

Ende der 60er Jahre trat der Stereoton seinen Siegeszug im Hörspiel an und wurde dort begeisterter begrüßt als zuvor in Klassik und Popmusik, wo es einige prominente Zweifler gab. Pünktlich zum Überschwang dieses Fortschritts entwickelten drei Wissenschaftler am Heinrich-Hertz-Institut (heute Fraunhofer-Institut) ein Aufnahmeverfahren, das den natürlichen Hörvorgang noch realistischer reproduzierte: die Kunstkopf-Stereophonie, auch binaurale oder kopfbezogene Stereophonie.
Dazu mussten zwei Mikrofone in einem Kopf aus Holz oder Plastik platziert werden, dessen Ohren denen des Menschen nachgebildet waren. Der Effekt war  überwältigend. Er lässt sich am ehesten mit dem Surround-Effekt im Kino oder mit der 3D-Optik vergleichen, aber das wird der Sache nicht gerecht. Der Hörer kann sich als stiller Teilnehmer mitten im Geschehen fühlen. Der Höreindruck ist gleichzeitig übermäßig realistisch und eine berauschende Illusion.

1974 machte Dr. Georg Plenge – Angehöriger des Forscherteams, das die Technik entwickelt hatte – im BR die Unterschiede zwischen der Kunstkopf-Stereophonie und den herkömmlichen Alternativen deutlich: „Monofonie und Stereophonie gehen von folgendem Gedanken aus: der  Schall, der in der Nähe der Quelle – vor dem Mund des Sprechers oder nahe am Musikinstrument – herrscht, wird durch ein Mikrofon aufgenommen und als elektrisches Signal übertragen. Dieses speist einen Lautsprecher im Raum des Zuhörers. Der Lautsprecher ist Repräsentant des Sprechers oder des Instruments, die Schallquelle ist in den Zuhörerraum versetzt worden. Der Unterschied zur Realität ist folgender: der Raumeindruck wird unterdrückt und ersetzt durch den Raumeindruck des Wohnzimmers, in das wir die Schallquelle geholt haben. Der Richtungseindruck ist bei normalem Abhören stets vorn. Diesem Verfahren gemeinsam ist die beschränkte Richtungsabbildung in der Horizontalebene: keine Abbildung der Richtungen oben / unten, geringe Rauminformation. Ein Raumeindruck wird meistens durch künstlich zugesetzten Hall erzeugt. Ein Vorteil dieser Verfahren Mono, Stereo und Quadrophonie besteht darin, dem Hörer alle Quellen besonders präsent zu machen, näher als das in der Wirklichkeit möglich ist. Die kopfbezogene Stereophonie geht nun von dem Gedanken aus, dass alle akustischen Eindrücke eines Hörers vollständig in dem Schall enthalten sein müssen, der an den menschlichen Trommelfellen auftrifft. Dazu gehören auch alle Schall-Einfallsrichtungen vorn / hinten / oben / unten / seitlich, alle Entfernungs- und Raumeindrücke.* Gelingt es nun, den Schall in den Gehörgängen eines Menschen aufzuzeichnen, zu speichern und später in den Gehörgängen des selben Menschen wieder zu erzeugen, so müsste dieser Mensch den selben Hör-Eindruck haben wie zur Zeit der Aufnahme, auch wenn er zu Hause in seinem Wohnzimmer sitzt. Die Ohren des Hörers sind in den Aufnahmeraum versetzt worden.
Die technische Realisierung dieses Gedankens erfordert nun zwei Abweichungen davon. Studiomikrofone mit ausreichender Qualität sind so groß, dass der menschliche Kopf durch einen Kunstkopf mit akustisch gleichen Eigenschaften ersetzt werden muss. Die Wiedergabe sollte nicht im Ohrkanal direkt, sondern um eines besseren Hörkomforts willen vor dem Hörkanal unter Ausschaltung der Ohrmuschel durch Kopfhörer erfolgen. Der nun verbleibende Unterschied zur Realität ist folgender: der Hörer hört nicht mit seinen Ohrmuscheln, sondern mit denen des Kunstkopfs.“

Es entstand eine Reihe von Hörspielproduktionen, die auch dramaturgisch mit dieser Möglichkeit spielten und die ihrer Faszination mal mehr, mal weniger auch qualitativ gerecht wurden. Das erste entstand 1973: „Demolition“.
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* Das ist nicht die ganze Wahrheit, wie wir in Kürze an dieser Stelle erörtern werden.

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Eine Antwort zu Technicolor für die Ohren – Die Kunstkopf-Stereophonie (1/3)

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