betr.: „Strahlemann“ von Fritz Schaefer,
siehe https://blog.montyarnold.com/2022/02/03/19901/
In diesem kleinen Buchauszug schildert uns der Autor wie es war, als seine Mutter beschloss, Sexualtherapeutin zu werden.
Die Entscheidung, diesen Karriereweg einzuschlagen, reifte erst relativ spät in ihr. Sie war bereits fünfzig Jahre alt, meine Schwester und ich waren Teenager, als sie uns bei einem Abendessen mitteilte, man hätte ihr, der diplomierten Pädagogin, „diese Zusatzausbildung“ auf der Arbeit angeboten. Sie sei „da sehr interessiert“, auch und gerade, weil sie sich bisher noch nicht so ausführlich „mit dem Thema“ auseinandergesetzt habe und nun ernsthaft überlege, zuzusagen.
Für mich war der Zeitpunkt ein ungünstiger. Mittlerweile befand ich mich nicht mehr in einem Alter, in dem sie mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett tragen und auf eine kalte Wiese stellen konnte. Ich pubertierte unkontrolliert vor mich hin und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war eine Sexualtherapeutin als Mutter.
Außerdem war ich von ihr nicht gerade ausgiebig aufgeklärt worden. Ich weiß nicht, vielleicht lag das an ihrem Katholizismus oder ihrer eigenen Erziehung (was ebenfalls Katholizismus bedeuten würde), jedenfalls redeten wir in Sachen Aufklärung nur über das Allernötigste. Ansonsten konnte ich alles mit Mama besprechen – doch was Sexualkunde betraf, hatte ich den Eindruck, herrschte ein Klima, in dem meine Fragen eher unerwünscht waren. Vielleicht war das aber auch eine ganz normale, gesunde Distanz zwischen Mutter und Sohn? Ich fragte bei keinem männlichen Freund dahingehend nach, aus Angst, ich könnte mich lächerlich machen mit meinem Unwissen.
Im Laufe des Heranwachsens hatte ich wegen alledem nach außen eine ziemliche Verklemmtheit entwickelt. Ich sprach und tat nichts Sexuelles, mehr noch: meine Schamhaftigkeit ging sogar so weit, dass mir selbst die eigentlich sexuell neutrale Erkundigung, wie man sich richtig rasierte, nicht über die Lippen kam.
Ich wurde unterschwellig wütend, dass meine Mutter nun nicht mir, sondern direkt Wildfremden ihre Unterstützung in der Untenrum-Sache anzubieten gedachte. Aufgeklärt wurde ich beiläufig, ohne Fragen, durch Freunde und das Internet. Rasieren lernte ich durch Trial and Error.

Zu Hause hatte ich oft den Eindruck gehabt, am Bauchnabel aufzuhören und erst kurz oberhalb der Kniescheiben wieder fortgesetzt zu werden, einfach, weil bei uns niemand über den Bereich dazwischen sprach. Und nun überraschte Mama mit ihrer Idee mit der sexualtherapeutischen Ausbildung.
„Kommen dann hier irgendwelche Gestörten zu uns nach Hause?“, fragte ich sie in einer Mischung aus gefälschter Langeweile und echtem Entsetzen. In meiner Fantasie wurde ich bereits unfreiwilliger Zeuge von Gesprächen, die meine Mutter im Wohnzimmer unserer kleinen, hellhörigen Wohnung führte. Fremde Männer mit Erektionsproblemen oder seltsamen Neigungen; gelangweilte alte Ehepaare, denen jegliche Sexualität vollständig abhanden gekommen war; anstrengende junge Paare, die Frau angeknipst, der Mann apathisch: ‚Hmja, also, der Stephan sagt einfach nicht, was er gerne hätte im Bett! Ich wär ja zu wirklich allem bereit, aber er meint, ich überfordere ihn mit meiner Geilheit.‘
Darauf meine Mutter: ‚Stephan, wie siehst du das?‘
Stephan: ‚Ich will einfach nur meine Ruhe.‘
„Das sind keine Gestörten, und wo ich das eventuell mache, wird sich zeigen“, sagte meine Mutter mit strafendem Blick und riss mich damit aus meinem außer Kontrolle geratenen Gedankenkarussell.
„Ich finde, du solltest das machen, Mama“, ergriff Martha das Wort. „Das passt überhaupt gar nicht zu dir, deshalb wird es dir gut gefallen!“ Wie recht meine Schwester hatte.
Wenige Tage später stand ein riesiger Rollkoffer im Flur. Er hatte ein Leopardenfellmuster und, ich hob ihn kurz an, er war leer.
„Mamaaa?!“, rief ich besorgt. „Ja?“, kam es aus der Küche. „Was ist das hier?“, fragte ich.
Meine Mutter lugte aus der Küchentür. „Ein Koffer natürlich.“
Ich blickte schnell zwischen meiner Mutter und dem Ding hin und her. „Und warum hat der einen Leoprint? Und was wird da reingepackt?!“
„Ich werde jetzt Sexualtherapeutin“, sagte meine Mutter mit feierlichem Unterton, als hätte sie damit alle Fragen zu diesem ominösen Koffer beantwortet.
„Ah ja, dann ist die Entscheidung jetzt also gefallen.“
„Sehr richtig.“
„Der Koffer ist für die Ausbildung?“
„Auch richtig.“
„An dem Fellmuster erkennt man ja auch direkt das mit dem Sex.“
„Willst du dich jetzt über mich lustig machen?“ Der Ton meiner Mutter wurde schärfer. Ich musste in der Tat ein Lachen unterdrücken, fand ich es doch zu komisch, dass meine Mutter sich des ganzen Themas jetzt mit solcher Verve annahm und ein riesiges Gepäckstück in Raubtierfell-Optik für einen geeigneten Start hielt.
„Nein, ich möchte einfach nur mehr erfahren über diesen verruchten Sex-Koffer!“, antwortete ich. Sie verdrehte die Augen.
„Den habe ich bestellt, um all meine Lernmaterialien verstauen und sie später zu Seminaren mitbringen zu können.“
Vor meinem geistigen Auge setzte ein Starkregen aus Sextoys verschiedener Farben und Größen ein. Ein riesiger Schwall Dildos, Vibratoren, Lack- und Lederklamotten und geplüschter Handschellen nahm mir prasselnd die Sicht. Und so weit war ich mit meiner wild blühenden Fantasie von der Realität gar nicht entfernt.
Ein kleiner, aber immer noch ein Schwall ebendieser Produkte sollte sich tatsächlich im Laufe der nächsten Tage in den Leoparden-Koffer ergießen.
„Und damit willst du ernsthaft Leute therapieren?“, fragte ich meine Mutter mit Blick auf das Chaos in dem Gepäckstück.
„Nicht ‚Leute‘ therapieren“, sagte sie. „Ich therapiere mich!“
„Was?!“ Ich sah entsetzt zu, wie sie einen Dildo in den Koffer legte.
„Bevor ich irgendwen anders therapieren kann, muss ich erst mal bei mir anfangen. Das gehört zur Ausbildung.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Du brauchst die ganzen Sachen also für… dich?“
„Ja, natürlich! Für meine Ausbildung, hab ich doch gesagt!“
Während ich meiner Mutter zusah, wie sie sorgsam einen weiteren Vibrator verstaute, den Reißverschluss des Koffers schloss, ihn auf seine Rollen stellte und in ihr Schlafzimmer zog, fragte ich mich, wie ich eigentlich gezeugt worden war. Da meine Mutter sich doch offensichtlich jetzt erst dazu entschlossen hatte, ihre Sexualität zu leben. Und zwar mit allen Mitteln, die ihr einfielen. Der Leo-Koffer hätte mir mit seiner üppigen Füllung für diverse frühe Sex-Abenteuer zur Verfügung gestanden, wenn er nur nicht meiner Mutter gehört hätte …