Die schönsten Filme, die ich kenne (111): „Live Flesh“

Ein Kritiker schrieb aus Anlass dieses Films: „Wie kaum jemand kann Almodóvar die körperliche Liebe filmisch inszenieren, ohne peinlich oder voyeuristisch zu sein.“ Für diese allweil richtige Feststellung ist „Live Flesh“ ein besonders anschauliches Beispiel.

1970 ächzt Spanien unter den letzten Jahren der Franco-Diktatur. In einem Linienbus kommt Viktor zur Welt. 20 Jahre später hat er sich zu einem stattlichen Burschen entwickelt. Sein erstes sexuelles Erlebnis mit der drogenanhängigen Elena geht gründlich in die Hose. Als er die Unwillige zu Hause bedrängt, alarmieren Nachbarn die Polizei. Viktor landet im Knast und der jüngere der beiden Beamten im Rollstuhl.
Als Viktor Jahre später aus dem Knast kommt, hat er Körper und Geist trainiert, ist aber sexuell noch immer ein Analphabet. Er will sich an dem querschnittsgelähmten Polizisten David rächen, der Elena nach dem tragischen Vorfall erobert und geheiratet hat. Zu diesem Zweck plant Viktor, sich von einer reifen Frau zum „besten Liebhaber der Welt“ ausbilden zu lassen. Der Zufall will, dass diese Frau ausgerechnet Clara ist, die Gattin von Davids älterem Kollegen Sancho. Der cholerische Trinker Sancho hat einst verschuldet, dass der Polizeieinsatz in Elenas Wohnung eskaliert ist (und das sogar mit Absicht).
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis allen Beteiligten die Zusammenhänge klar werden und es zu einem heißblütigen Showdown kommt … 

Pedro Almodóvar ist der wichtigste spanische Filmregisseur der Jahrtausendwende und der aus internationaler Sicht amüsanteste spanische Filmregisseur aller Zeiten.
Seine gelungenen Arbeiten verteilen sich gleichmäßig über die Jahre. Doch sein Temperament ist nach und nach vom grellen Vordergrund in den Subtext gesickert. Die Leidenschaft, die er schon im Namen seiner Produktionsfirma verewigt hat, wird nicht länger mit den Mitteln der Farce ausgelebt, inzwischen ist der Meister im Melodram angekommen. So sehr mich sein neuester Film „Parallele Mütter“ gefesselt hat (so wie lange kein aktueller Film mehr), so sehr fehlt mir der Slapstick seiner Anfänge, die Anarchie, das Tuntige, das Burleske. Die dafür zuständigen Rollen wurden immer kleiner, bis es dann vor einigen Jahren zu einer eruptiven Stewardessen-Klamotte kam, die sich anfühlte, als wolle der Regisseur seine letzten Fans aus der Subkultur mit einem Arschtritt zum Teufel jagen. Was immer gleich geblieben ist, sind die grandiosen Frauenfiguren und – und das ist wirklich einmalig! – die regelmäßigen dankbaren Altersrollen für diese Schauspielerinnen. Die Männer sehen übrigens heute ganz anders aus: waren es zu Beginn „appetitliche Burschen“, sind es heute durchweg „Frauentypen“.

Den Wendepunkt in diesem Zusammenhang markierte im Jahre 1997 „Carne Trémula“ („Live Flesh“), in dem der frühe und der späte Almodóvar optimal ausbalanciert sind. Wir erleben den Kitsch als ein feinstes Präzisionsinstrument. Als sich der junge Polizist – Minuten bevor er zum Krüppel geschossen wird – verliebt, rauscht die klug ausgeleuchtete Frau seiner Träume in einer Zeitlupen-Einstellung hinter ihm vorbei; in Wahrheit beeilt sie sich, denn er hat sie aufgefordert, sich aus der Schusslinie zu begeben. Seit dem Vorbeischweben von Kim Novak an James Stewart in Hitchcocks „Vertigo“ knapp 40 Jahre zuvor ist Solches nicht mehr so unironisch, aufrichtig und konsequent im Mainstream-Kino vollbracht worden. Ohne Stilbruch führt uns die gleiche Erzählung ins wirkliche, pralle Leben hinein – der unerfahrene, bockige junge Ex-Knacki ist bei seiner sexuellen Lehrmeisterin in den besten Händen, die ihm erklärt, die Muschi werde ihm schon sagen, wann sie bereit sei (doch, doch, das werde sie!); die rührige Puffmutter in der Eröffnungssequenz versaut dem Busfahrer mit jovialem Pragmatismus den Feierabend und macht seinen Bus zum Kreissaal … – und wieder zurück in die große Oper – wenn die desillusionierte Frau zu ihrem Partner sagt, ehe sich beide gegenseitig erschießen werden: „Wie sollen wir es denn sonst zu Ende bringen?“ und wir im Kinosessel wissen, dass dies keine rhetorische Frage ist. Wer Pedro Almodóvar – was noch immer häufig geschieht – mit Fassbinder vergleicht, hat mindestens einen der beiden gar nicht angeschaut.

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