Die schönsten Filme, die ich kenne (113): „Der Fall Paradin“

Als 1984 fünf für lange Zeit gesperrte Filme des verstorbenen Alfred Hitchcock wieder freigegeben wurden, gelangten noch weitere seiner Arbeiten erneut in die Programmkinos. Über „The Paradine Case“ schrieb die SZ, er blitze „unter bunter Massenware hervor wie ein Juwel unter Modeschmuck“ und ginge „ins Blut wie ein schwerer Burgunder“. Es war das erste Mal, dass ich irgendetwas Positives über ein Werk las oder hörte, das vom Regisseur selbst abgelehnt wurde (die letzte Auftragsarbeit, ehe Hitchcock sein eigener Produzent wurde) und das sämtliche Rezensenten und Biografen als schwerfällig und geschwätzig schmähten. In einem Buch wurde immerhin anerkannt, dass die Szenen im Gerichtssaal mit vier Kameras gefilmt wurden, was den Schauspielern ein Durchspielen wie auf dem Theater ermöglichte. Das habe viel Schneideabfall verursacht, aber zu einem „sehr aufregenden“ Ergebnis geführt. Für mich ist das nur ein Vorzug von vielen.

Die reiche Maddalena Paradin wird kurz vor dem Abendessen von der Polizei aus ihrer Londoner Stadtvilla abgeholt. (Die Szene ist dem noblen Milieu angemessen bedächtig erzählt, aber der Film kommt sofort zur Sache!) Man verdächtigt die Witwe, ihren blinden Gatten vergiftet zu haben. Ihre Verteidigung wird dem glücklich verheirateten Anwalt Anthony Keane übertragen. Der verfällt der sphinxhaften Schönheit der eiskalten, herablassenden Frau vom ersten Augenblick an und glaubt vor allem deshalb an ihre Unschuld. Mrs. Paradin erwidert die Sympathie keineswegs und lässt ihren Verteidiger am langen Arm verhungern, obwohl ihr im London der Nachkriegszeit die Hinrichtung droht. So erfährt Keane erst unmittelbar vor Beginn der Verhandlung, dass sie mit André Latour, dem Stallburschen ihres Mannes, eine Affäre hatte. Der alte Richter Horfield – pikiert darüber, dass sich Mrs. Keane nicht von ihm betatschen lässt – tritt gegenüber dem Anwalt ebenfalls sehr feindselig auf. Zum endgültigen Bruch mit seiner Mandantin kommt es für Anthony Keane, als er versucht, den Mordverdacht auf André Latour abzuwälzen, was Mrs. Paradine entschieden ablehnt. Mehr und mehr entgleitet ihm der Prozess, und auch um die Loyalität seiner Ehefrau beginnt er zu fürchten …

Wann immer ich mir „Der Fall Paradin“ wieder ansehe, verpuffen die allerseits gepflegten Vorbehalte. Offenbar nimmt man diesem Film vor allem übel, dass er keiner von Hitchcocks zahllosen Klassikern ist und weder Suspense noch irgendwelche Action enthält – aber das bringt ja bereits das Genre des Gerichtsfilms mit sich. Ich teile auch nicht den Unmut über die Besetzung, die man dem Regisseur aufgezwungen hat. Besondere Freude macht mir das Vater-Tochter-Gespann Charles Coburn und Joan Tetzel. Außerdem entzücken mich der viel getadelte Charles Laughton als krötenartiger Richter (die Ehe-Sequenz mit Ethel Barrymore ist tollkühn in ihrer Burleske, aber eine Punktlandung!) sowie Ann Todd in ihrer schwierigen Rolle als gedemütigte Anwaltsgattin. Gregory Peck scheitert eigentlich nur an seinem törichten Text, aber solche Menschen soll es geben, und es ist legitim, sie im Film abzubilden, zumal er für seine Unzulänglichkeit büßen muss. Lediglich dem Unbehagen über den etwas fehlbesetzten Louis Jordan kann ich mich anschließen, aber er fügt diesem souverän auf Kurs gehaltenen leisen Drama keinen Schaden zu. Die Bildgestaltung, die Dekorationen, die ganze Atmosphäre des Films – schlichtweg seine Wertigkeit – sind atemberaubend, und die Musik von Franz Waxman steht ohnehin über jeder Kritik.

„The Paradine Case“ ist einer der Gründe, warum ich die 40er Jahre neben den 60ern inzwischen als mein Lieblings-Filmjahrzehnt betrachte.

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