Die Komik der Sahnetorte

Die Franzosen mögen die Erfinder des Kinos im Allgemeinen und (in Gestalt Max Linders) des stummen Slapstickfilms im Besonderen gewesen sein, doch die Etablierung der Sahnetorte als Schlüsselrequisit der Komik geht auf die Amerikaner zurück. Die zweckentfremdete Süßspeise war eine allzeit griffbereite Waffe und weniger Gegenstand regelrechter Tortenschlachten. Darauf hat uns der Augenzeuge auch vieler später verschollener Slapstick-Comedies William K. Everson 1967 hingewiesen:

Henry Miller, dessen sonstige Werke seine Mängel als Filmhistoriker mehr als wettmachen, hat einmal geschrieben, „The Battle Of The Century“ sei „nach tausenden von Mack-Sennett-Sahnetorten-Burlesken“ gekommen. In Wirklichkeit gibt es in der ganzen Filmgeschichte kaum mehr als fünf große Sahnetorten-Schlachten. Die erste ist in Chaplins „Behind The Screen“ enthalten; die zweite in besagtem Laurel & Hardy-Film; die dritte in „Keystone Hotel“, einem mittelmäßigen Ton-Zweiakter, der die Stummfilm-Verrücktheiten wiederzubeleben versuchte; die vierte in dem Three Stooges-Film „In The Sweet Pie And Pie“; und die fünfte in „The Great Race“ von 1965.

Hinzufügen möchte ich noch den acht Jahre nach dieser Statistik entstandenen Gangsterkrieg in Alan Parkers „Bugsy Malone“. Everson weiter:

Die Vorstellung, in den stummen Slapstick-Comedies habe man dauernd mit Sahnetorten um sich geworfen, ist mythisch, aber nichtsdestoweniger völlig falsch. Zwar kamen in der ganzen Sennett-Ära immer wieder Sahnetorten vor, aber das waren stets einzelne Torten, in interpunktierender Weise geworfen als Startsignal oder Schlusspunkt einer Aktion oder Verfolgungsjagd. „Custard Pie Comedy“ (Eiercremetorten-Comedy) war um 1927 ein Sammelbegriff für eine Art von Slapstick, der bereits als passé galt; die gigantische, völlig hemmungslose Tortenschlacht, die Laurel und Hardy in ihrem Film vom Zaun brechen, ist eher der Höhepunkt eines bis dahin unterentwickelten Genres als dessen Rekonstruktion. Wie alle ähnlich gelungenen Laurel & Hardy-Sequenzen ist sie perfekt aufgebaut. Für die erste Torte gibt es einen triftigen Grund, auch für die zweite und in Maßen auch für die dritte; dann aber kehrt der gesunde Menschenverstand der Szene den Rücken. Der Mensch fällt auf seine primitiven Instinkte zurück (…) – wobei er sich umso weniger Hemmungen auferlegen muss, als die hier betriebene Art von Brutalität niemandem wirklich weh tut.

Ein Fan der Sahnetorten-Komik war der Showmaster Rudi Carrell, ein ergebener Jünger der klassischen amerikanischen Entertainment-Disziplinen. Er hat in den 70er Jahren gern mit einer Variation gearbeitet: meistens bekam er keine Torte ins Gesicht, sondern ließ sich seinen Anzug und seine Würde dadurch ruinieren, dass man ihn ins Wasser oder etwa in ein Becken mit Kurschlamm warf. Meistens ließ er sich zum Ende der Show einfach mit Wasser begießen. Das Publikum lachte und applaudierte hauptsächlich, weil es die Chiffre des Gags verstand und seinen Einsatz würdigte. Um im Sinne des Originals zu funktionieren und wirklich komisch zu sein, war Carrells Besudelung zu einvernehmlich und nach einer gewissen Zeit auch zu erwartbar. Ob diese unschuldige Art der Demütigung heute noch funktionieren würde, käme auf einen Versuch an. Man müsste sie einmal vor einem unvorbereiteten Publikum ausprobieren – vor einem möglichst jungen Publikum, das die alten Filme gar nicht kennt und deshalb völlig unbefangen darauf reagiert.

Auszug aus dem Essay „Humor Omnia Vincit“

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