betr.: 109. Jahrestag der Premiere von „Mabel’s Strange Predicament“
Die Historiker sind sich nicht 100%ig sicher, aber viel spricht dafür, dass Charlie Chaplin sein legendäres Tramp-Outfit zum ersten Mal trug, als er unter der Regie seines Entdeckers Mack Sennett in der Komödie „Mabel’s Strange Predicament“ agierte. Chaplin hat seinen Look von da an fast unverändert beibehalten, bis er ihn 1940 – zu diesem Zeitpunkt längst sein eigener Regisseur – ein letztes Mal pflegte.
Zu den vielen Besonderheiten, die Charlie Chaplin in kurzer Zeit zum berühmtesten lebenden Menschen der Welt gemacht haben, gehörte eine Akribie, die dem Publikum in Form ihrer Ergebnisse präsentiert wurde. Wenn der Tramp einen Beruf ergriff – oder besser: einen der Jobs, die er fast so schnell wieder verlor wie er sie angenommen hatte -, faszinierte uns die routinierte Fingerfertigkeit, mit der er zu Werke ging. Er brachte jedes Handwerk so anschaulich auf den Punkt, als habe er es tatsächlich erlernt und längere Zeit ausgeübt. Besonders berühmt wurde sein Solo als Barmixer (dessen Motorik auch noch satirisch-fachgerecht verfremdet wird). Mein Lieblingsbeispiel stammt aus dem Spätwerk „Monsieur Verdoux“: Chaplin hat einen frisch ergaunerten Stapel Geldscheine nach Hause gebracht und zählt ihn erst einmal durch. Da er im Hauptberuf Schalterbeamter ist, behandelt er das Geldscheinbündel entsprechend, was sehr komisch aussieht.
Fast vergessen ist der Komiker Max Linder, knapp sechs Jahre älter als Chaplin und der erste Comedy-Filmstar von bleibendem Wert im Geburtsland des Kinos und der Stummfilmgroteske. In seinen Filmen sehen wir das echte Paris der Belle Époque (oder zumindest echte Möbel und Klamotten der Belle Époque im Atelier), auf den Standfotos erblicken wir den attraktiven Hauptdarsteller, einen kultivierten Dandy und Lebemann vom Alten Kontinent. Sieht man sich einige seiner Filme tatsächlich vollständig an, entpuppt sich der Kerl als draufgängerischer Rüpel ohne jede soziale Kompetenz. Unter seiner feschen Schale schlägt das Herz eines flatterhaften Egomanen, der weder mit Frauen und Kindern noch mit Tieren umgehen kann. Optisch sekundiert Linder dieses Konzept mit seinen Glubschaugen, die irre aus den Höhlen treten, wenn er wieder eine schräge Idee ausbrütet, und seine Zahnlücke scheint sich noch etwas zu weiten. Es ist ein früher Fall von Text-Bild-Schere, der hier zum Vergnügen beiträgt, so anarchisch wie die wildesten Kapriolen des amerikanischen Slapstickfilms.
Während Chaplin uns mit professionell anmutender Akkuratesse den Atem raubt, ist Linder – ganz im Gegenteil – selbst mit den Kleinigkeiten der Haushaltsführung restlos überfordert und improvisiert so barbarisch und unpfleglich, dass selbst Laurel und Hardy verlegen wegsehen müssten. Täuscht Max gar vor, ein Handwerk zu beherrschen – etwa das des Fußpflegers – dann wird er zu den derbsten und denkbar falschesten Mitteln und Maßnahmen greifen und dadurch seine Lacher provozieren. Bei Chaplin denken wir: das könnt‘ ich nicht! Bei Linder beruhigt uns die Gewissheit, dass wir uns so offensichtlich dann doch nicht blamiert hätten.
In einem Punkt ähnelt der frühe Chaplin seinem französischen Vorreiter: auch der Tramp war zunächst ein reichlich brutaler Wicht, dem die enge Weste näher war als die Jacke. In den folgenden Jahren – es sollten seine produktivsten sein – verfeinerte Chaplin seinen Charakter zu einem herzensguten, wenn auch wehrhaften Opfer der Gesellschaft. Mitte der 20er war er der erste, der Drama und Klamotte in einem Genre zusammengeführt hatte und als ernsthafter Künstler gefeiert wurde.
Da war Max Linder bereits aus dem Leben geschieden, noch keine 45 Jahre alt.