Im Gedränge

betr.: Sprechen am Mikrofon

Die Zahl an Un-Worten und misstönenden Formulierungen, um die man gefälligst herumzuformulieren hat, wächst auch innerhalb von Fachsprachen.
Im Synchronstudio darf man nicht mehr „Menge“ sagen. Zumindest nicht gegenüber den Sprecherkollegen, die für solche Jobs gebucht werden. Während in der Aufnahmeleitung weiterhin von „Menge“ gesprochen wird, wenn von diesen zumeist rollennamenlosen Mini-Takes im Hintergrund die Rede ist, spricht man zu den Betroffenen von „Ensemble“.

Früher besetzten die Studios Sprechrollen wie den „Rufer in der Menge“ oder das „Mädchen auf der Party“ einfach aus den Nachbar-Ateliers, also mit den Sprechern anderer Produktionen, die eh im Hause waren. Inzwischen hat das straffere Zeitmanagement der Disposition zu einem Wegfall gemütlicher Leerläufe geführt. Heute wird grundsätzlich ge-ixt, da trifft man sich nicht mehr zufällig im Aufenthaltsraum. Kleinstrollen werden also an jene vergeben, die mit dem Wunsch an die Synchronbetriebe herantreten, „sowas“ auch mal machen zu wollen. Man erklärt ihnen, „Ensemble“-Takes bedeuteten einen guten Einstieg in die Synchrontätigkeit: am Mikrofon könne man so Sprachregelungen und Abläufe verinnerlichen, dem Studio sei es unterdessen möglich, Talente zu erkennen und für größere Aufgaben vorzusehen.
Das ist logisch richtig, wird in der Praxis jedoch nur in Ausnahmefällen so umgesetzt.

Von außen  in die Branche hereinzukommen – etwa aus dem Schauspiel, so wie in alter Zeit üblich –, ist schwer. Entgegen der weitverbreiteten Laien- und Schauspielermeinung sind „Schauspiel“ und „Synchronschauspiel“ nur am Rande vergleichbar, und den Gemeinsamkeiten stehen ebensoviele Gegensätze gegenüber. (Die meisten Synchroninteresssierten sind aber ohnehin keine Künstler sondern „Fans“.)
In den Ateliers fühlt sich niemand für die Einweisung des Nachwuchses zuständig – die geschäftliche Routine erlaubt es nicht, und niemand bezahlt dafür. Und auch die Schauspielschulen tun nichts, um ihre Zöglinge entsprechend breit aufzustellen. Sie richten sie ausschließlich auf Bühne und Kamera aus und sind der tatsächlich Meinung, die Sprecherziehung sei bereits alles, was auch als Qualifikation für das (Synchron-)Sprecherhandwerk nötig sei.

Das führt wiederum dazu, dass die Synchronstudios ihr Personal längst am liebsten und fast ausschließlich aus den Familien ihres bisherigen Personals beziehen. Da der Sprechernachwuchs am Mikrofon aufgewachsen ist, braucht er weder eine Talentprobe noch eine fachliche Einweisung, erst recht kein Vorstellungsgespräch. (Er braucht übrigens auch nicht zwingend persönliches Interesse an der Mikrofonarbeit mitzubringen.)

Wer sich als Anfänger bereitfindet, Mengentakes zu sprechen, der hat gute Aussichten, in dieser Abteilung zu verbleiben oder allenfalls in kleinere Nebenrollen auszusteigen. Das macht den betroffenen Sprecherinnen und Sprechern in der Regel nichts aus. Die meisten von ihnen finden schon winzige Auftritte in einer Netflix-Serie oder einem angesagten Blockbuster so sexy, dass sich die Mühe lohnt.

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