Nicht nur im Wein liegt die Wahrheit

Betr.: 81. Geburtstag von Christof Stählin

Auch ohne meine Lieder ginge die Welt nicht zugrunde. Schön, aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Welt ausschließlich aus Dingen besteht, ohne die sie  nicht zugrunde gehen würde. Man kann doch nun die Welt nicht einfach so ihrer Bestandteile berauben! Also singe ich.
C.S.

Der verstorbene Tübinger Liedermacher Christof Stählin hat viele junge Kollegen beiderlei Geschlechts unterrichtet und gefördert, in denen seine Kunst und sein Kunsthandwerk fortleben. Gut, das sagt nicht viel aus, befinden sich unter ihnen doch sowohl Sebastian Krämer als auch Bodo Wartke. So halten wir uns vielleicht einstweilen an das ebenfalls hinterlassene Buch „SAGO – Alles, was ein Lied braucht“. Darin geht es um den handwerklich richtigen Weg zu einem guten Chanson. Der folgende Beitrag ist auch auf der Homepage der Christof-Stählin-Gesellschaft aufzuspüren: www.christof-staehlin-gesellschaft.de

Anzapfen

Was ist das? – ein Bierfass. Und so weit sind wir uns mit unseren Nachbarländern einig: Beer barrel – Fût de bière – Fusto di birra. Was aber den Inhalt angeht, da gibt es interessante Unterschiede, die uns Dichtende interessieren sollten. Die europäischen Sprachen haben nämlich ganz unterschiedliche Begriffe für das gefunden, was dort herausgeholt wird: In England sagt man «drafted beer» (wörtlich: «gezapftes Bier»). In Frankreich nennt man das «bière pression» (wörtlich: «Bier unter Druck» oder «Gepresstes Bier»). Die Italiener nennen das Getränk «birra alla spina» (wörtlich: Bier vom Zapfhahn). Und wir Deutsche sagen «Bier vom Fass». Welche Sprache hat – im poetischen Sinne – die beste Bezeichnung gefunden, aus der sich das meiste für die Kunst des Liedermachens lernen lässt?

Der Zapfhahn

Zunächst einmal: Der englische Begriff «drafted beer» benennt die Tätigkeit, die notwendig ist, um an das Bier heranzukommen (zapfen). Dieses Zapfen muss abgeschlossen sein (sonst wäre das Glas ja leer), deshalb das Partizip Perfekt «drafted». Der französische Begriff erklärt den physikalischen Vorgang, der das Bier ins Glas befördert (Druck). Und  der deutsche nennt das große Ganze, das das Bier umschließt (Fass). «Bier vom Fass» klingt gleichzeitig ein bisschen adelig, weil das «vom» die Zugehörigkeit des Kleinen zu einem Größeren betont, gleichzeitig aber die Schwere und Macht des Ganzen in das von ihm Genommene zurückgibt. Dies sind gute Begriffe in dem Sinne, dass sie das Gemeinte eindeutig und unverwechselbar beschreiben. Aber im poetischen Sinne ist «birra alla spina» weit überlegen. Warum?

Das italienische Wort bezeichnet ein herausgenommenes Detail, das für das Ganze typisch ist. Der Zapfhahn ist die Stelle, an die der Zapfende seine Hand tun muss, die Stelle, wo man das Glas drunterhalten muss und wo das Bier fließt, wo es sichtbar wird. Der Zapfhahn steht stellvertretend für das große Fass, an dem er befestigt ist. Wenn ich ihn nenne, entsteht es in Gedanken gleich mit, denn ohne Zapfhahn ist das Fass so sinnlos wie der Zapfhahn ohne Fass.

Einen Liedtext so zu gestalten, dass kleine Details das Große und Ganze des Gemeinten erwecken, ist eine große Kunst. In der Sago-Schule heißt die Frage «Wo ist der Zapfhahn?» vieles:

– Welches Detail steht am besten für das, was du sagen willst?
– Wieviel kannst du weglassen, ohne dass etwas verlorengeht?
– Wo kann der Zuhörer sich am besten einklinken, «die Hand hintun»?
– Welches Detail aus deiner Sammlung setzt du nach vorne?
– In der Andeutung liegt oft eine größere Kraft als in der Ausführlichkeit.

Für uns als Liedermacher stellt die Zapfhahn-Formulierung das Erstrebenswerte dar. Es gilt, verbale Zapfhähne zu finden. Ein Liedtext soll kein Fass liefern, sondern das Erfassbare. Keinen gasigen Zustand und keine abgeschlossene Handlung, sondern Handliches, Handfestes.
«Du musst den Stier bei den Hörnern packen», sagt ein Sprichwort. So ein Horn ist leicht fasslich – ein Zapfhahn am Fass des Stieres. Das Griffige ist begreiflich. Adelbert von Chamisso hat einem berühmten Vierzeiler von Joseph von Eichendorff den Titel «Wünschelrute» gegeben, obwohl von einer solchen gar nicht explizit die Rede ist:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Wünschelrute oder Zauberstab («Wünschelrute» heißt im alten Sinne auch so viel wie «Zauberstab») – auch hier handelt es sich um handliche Griffe. Das Zauberwort, das Schlüsselwort – um bezaubern zu können, müssen sie zunächst einmal griffbereit sein und sich begreifen lassen. Dann kann Vermittlung stattfinden, und der Liedermacher wird selbst zum Zapfhahn: Wie dieser zwischen Fass und Glas, vermittelt er zwischen seiner übervollen Brust und dem aufnahmebereiten Publikum.

Jemand, der oft ein Händchen dafür beweist, den Zapfhahn, aus dem es dann nur so sprudelt, genau an der richtigen Stelle anzubringen, ist Reinhard Mey. Nehmen wir sein Lied «Viertel vor sieben». Dessen Refrain «Ich wünschte, es wär’ nochmal viertel vor sieben, und ich wünschte, ich käme nach Haus’» ist von der Erwachsenenperspektive aus sinnlos: Viertel vor sieben ist es zweimal am Tag, und nach Hause kommen kann man in aller Regel ja auch regelmäßig. Warum also der Irrealis «ich wünschte»? Das Lied macht sofort klar, dass der, der das wünscht, als Kind immer um viertel vor sieben zu Hause war, und dass daher diese Uhrzeit – vielleicht der Anblick der Zeiger in dieser Position auf einer alten Küchenuhr – für ihn eine besondere Bedeutung hat. Die naive Äußerung des Wunsches, dass es wieder viertel vor sieben sein möge, löst daher eine Rührung im Hörer aus, mit der es wortreiche Bekundungen von Sehnsucht und Vermissen schwerlich aufnehmen können, oder, wie Christof Stählin gesagt hätte, an deren Fußknöchel sie nicht heranreichen.

In Tschechows Theaterstück «Die Möwe» sagt der junge Autor Treplew über den etablierten Kollegen Trigorin: «Er hat’s leicht. Bei ihm  braucht auf der Schleuse nur der Hals einer zerbrochenen Flasche zu glänzen und der Schatten des Mühlrades zu dunkeln, und eine ganze Mondnacht ist fertig. Ich aber brauche zitterndes Licht, das Glitzern der Sterne und ferne Klaviertöne, die in der stillen, duftenden Luft ersterben … Das ist qualvoll.»

Dass der Hals der zerbrochenen Flasche auf der Schleuse die ganze Mondnacht repräsentieren könne – Tschechow hatte dies zuvor schon in seinen Notizbüchern festgehalten. Er macht klar, dass wir im Laufe der Zeit auch Übung darin bekommen können, die geeigneten Zapfhähne zu finden, und dass sich die «Qual», die Treplew hier anspricht, lohnt.

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