Die wiedergefundene Textstelle: Über die Länge (nicht die Höhe) von Absätzen

„Die hohe Schule der Geschäfts- und Privatkorrespondenz“, um 1970 im Falken-Verlag Wiesbaden erschienen, ist ein bis heute lesenswertes Buch. Einige der vermittelten Regeln gelten noch immer (obwohl sich kein Schwein mehr daran hält, nicht einmal wenn es tatsächlich noch Briefe und keine Mails verfasst), die übrigen sind leicht als veraltet erkennbar und dann zumeist sehr amüsant – mindestens als Zeitdokument. An der folgenden Passage aus dem Kapitel über Aufbau und Wirkung von Absätzen gefällt mir das hübsche Bild, das sie heraufbeschwört – obwohl sie nicht gerade aus dem Leben gegriffen ist und ich den Vergleich der Textgattungen Belletristik und Geschäftsbrief für kühn halte.

Haben Sie einmal alte Damen beobachtet, die sich in einer Bücherei einen Roman aussuchen? Haben Sie einmal mit Ihnen gesprochen, um zu erfahren, nach welchen Gesichtspunkten da gewählt wird? Sie würden vielleicht erstaunt sein, denn häufig ist die Länge der Absätze für diese routinierten Leserinnen ein besonders wichtiges Merkmal.
Warum? Sehr lange Absätze lassen vermuten, daß das Buch viele Beschreibungen und Betrachtungen enthält; kurze Absätze erlauben hingegen den Schluß, daß allerhand passiert, daß es mit der Handlung zügig vorangeht, daß sich die Personen intensiv miteinander unterhalten, freuen, streiten, kurz: daß die Geschichte lebendig erzählt wird, daß sie spannend ist.
(…) Kurze Absätze werden lieber gelesen als lange. Man darf allerdings nicht gewaltsam vorgehen, denn der Absatz soll eine gedankliche Einheit sein. Eine gedankliche Einheit bloß um der äußeren Form willen zu zerschlagen, wirkt sich ebenso nachteilig aus wie das Verfahren, mehrere gedankliche Einheiten in einem einzigen Absatz zusammenzukleistern.

Haben Erfahrung mit dem Leseverhalten alter Damen (l.): Miss Marple (m.) und Mr. Stringer, der Leiter der Leihbücherei von Milchester (Foto: MGM Home Entertainment)

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