Werner Grassmann und das ABATON

betr.: Zum Tode von Werner Grassmann

Felix Grassmann, heute Chef des Hamburger Programmkinos “Abaton”, hat mir gestattet, die Trauerrede für seinen Vater Werner Grassmann, dem Gründer des Kinos, hier festzuhalten. Ich habe sie mit dem Editorial des Abaton-Programmheftes vom September 2023 zusammengefügt.

Mein Vater, 1926 geboren, gehörte einer Generation an, die gerade noch in den Zweiten Weltkrieg ziehen musste. Er wurde mit 17 Jahren an die Ostfront geschickt, als der Krieg schon längst verloren war. Auf die Frage meines Sohnes, wie das im Krieg eigentlich so sei, hat er geantwortet: „Stell Dir vor, Du hast nichts zu essen und musst bei Schnee nachts raus in den Park, nur bekleidet mit einem Hemd.“ Über die Todesangst hat er nicht gesprochen, die denkt sich jedes Kind dazu, wenn es nachts allein in den Park gehen soll.
Diese Erfahrungen haben ihn nicht gelähmt, er war ein unglaublich tatkräftiger und unternehmungslustiger Mensch, geprägt von unverwüstlichem Optimismus. Niederlagen, Rückschläge oder die gelegentlichen Besuche des Gerichtsvollziehers in den 70er Jahren konnten ihn nicht entmutigen. Dabei war er kein Egoist, sondern ein sehr mitfühlender, gutmütiger und zurückhaltender Mensch. Enorm großzügig und mit einem feinen Humor ausgestattet.

Nach Ende des Krieges gelang ihm relativ bald die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft, und er kehrte nach Hamburg zurück. Dort konnte er bei seinem Vater arbeiten, der Prokurist in einem Verlag war. Dieser Verlag brachte eine Publikation heraus, deren Sinn ich bis heute nicht verstanden habe. Dort wurden alle Waren aufgelistet, die im Hafen ankamen oder ihn verließen. Mein Vater sollte für diese Publikation Werbekunden besorgen. Er nutzte diese Kontakte, um 1953 seinen ersten Film zu finanzieren: „Ware unterwegs“, ein Dokumentarfilm über den Hamburger Hafen, versehen mit einem ironischen Kommentar des damals recht berühmten Kabarettisten Werner Finck.
Es folgten bis Ende der sechziger Jahre mehr als 35 Filme, die mein Vater für das gerade entstehende Fernsehen produzierte und die Regie führte. Ich kann nur über das damalige Tempo staunen. Aber jede Zeit hat ihren Rhythmus und ihre Geschwindigkeit. Denn im selben Jahr, in dem mein Vater als Anfänger und Autodidakt seinen ersten Film drehte, hat er auch sein erstes Kino eröffnet.

Das “Studio 1” war mit seinen 25 Plätzen das kleinste Kino Hamburgs, aber vermutlich mit dem besten Programm, schon damals.* Drei Jahre später war Schluss. Die Behörden hatten entdeckt, dass das Kino keine getrennten Toiletten für Damen und Herren anbieten konnte, und es geschlossen. Die Zeit war noch nicht reif für das Konzept von Unisex-WCs (und Programmkinos).
1967 findet in den Räumen der Filmproduktion meines Vaters „Studio 1“ das erste „Film-In“ statt: 72 Stunden experimentelle Filme non stop. Sein Produktionsbüro in der Brüderstraße 17 wird zum Kristallisationspunkt für die Filmemacher der „Hamburger Film-Coop“, deren Gründungsmitglied er war. Diese Film-Coop war ein Zusammenschluss von Filmemacherinnen und Filmemachern, die Andere Filme wollten.

In seiner Trauerrede hat Johann Claussen eine wichtige Qualität meines Vaters hervorgehoben: Er hätte erkannt, dass es nicht ausreicht Ideen zu haben, es braucht Institutionen, um diese Ideen durchzusetzen und ihnen Raum zu verschaffen. Mein Vater hatte in seinem Büro einen Kanonenofen. Das war sein Beitrag. Da war es schön warm, da konnte man sich treffen. Wer weiß, was aus der Hamburger Film Coop ohne diesen Kanonenofen geworden wäre? Manchmal ist es eben ein Kanonenofen, der am Anfang einer Institution steht. Auch das Abaton wurde eine Institution.

Ganz vorne (sogar im Alphabet)

Mein Vater hat auch Filme produziert, mit den Filmemachern Jochen Kuhn und Zoltan Spirandelli er sogar den Deutschen Filmpreis gewonnen.

1970, während die Umbauarbeiten zum Abaton langsam voranschritten, produzierte er nebenbei “Fußball wie noch nie”: die Kamera von Hellmuth Costard zeigt 90 Minuten ohne Unterbrechung den Mittelstürmer George Best. Wir sehen immer den Star des Spiels und nur ganz selten mal den Ball. – Ein legendärer experimenteller Dokumentar- oder auch Spielfilm, ganz wie man will. 2006 feierten Douglas C. Gordon und Philippe Parreno ihre Weltpremiere auf den Filmfestspielen von Cannes mit dem Film „Zidane“. Gordon und Parreno hatten dieselbe Idee wie Costard und mein Vater – nur eben 36 Jahre später.

Die Hürden der Filmbeschaffung in den 70er Jahren sind heute schwer vorstellbar. Die etablierten Kinos setzten die Verleiher unter Druck, die Programmkinos nicht mit Filmen zu beliefern. Es ging manchmal um Filme, von denen es nur ein paar Kopien weltweit gab. Die mussten aber unbedingt im Abaton laufen.

Aber das Konzept des Abaton war von Anfang an breiter angelegt. Die Firma hieß „Abaton Kino & Filmverleih“. Es ging also darum, nicht bloß ein Programm für das eigene Kino zusammenzustellen, sondern über einen Film-Verleih auch andere Gleichgesinnte mit den richtigen Filmen zu versorgen. „Harold And Maude“ war ein solcher Film, der in Amerika gefloppt war, der aber im Abaton und den anderen damals entstehenden Programmkinos für ausverkaufte Häuser sorgte und noch heute Kultstatus besitzt. Sogar der Organist bei der Beerdigung meines Vaters ist ein Fan und hat das letzte Stück aus dem Film zum Abschied in der Kirche gespielt.

Aber die Gründung eines Kinos und eines Verleihs waren nicht genug. Mit Stefan Paul aus Tübingen gründete er noch einen weiteren Verleih: Mafton. Sie haben bloß zwei Filme herausgebracht. Einer davon war „Themroc“ mit Michel Piccoli. Diese anarchische Komödie, in der Inzest und Kannibalismus fröhlich in einen Topf geworfen werden, hatte in Deutschland 300.000 Besucher, rettete zusammen mit „Harold And Maude“ das Abaton vor dem Ruin und bildete den finanziellen Grundstock für Stefan Paul, um in Tübingen 1974 das Arsenal Kino zu bauen, einer weiteren Institution unter den deutschen Programmkinos.

Damit sich aber die Programmkinos als Alternative zum Mainstream etablieren konnten, brauchte es eine Interessenvertretung. Das wurde die “AG Kino“, die 1972 gegründet wurde – von sieben Kinomachern, mit meinem Vater als erstem Vorsitzenden. Und auch die AG Kino brauchte selbstverständlich einen Verleih, um die Mitglieder mit den richtigen Filmen versorgen zu können. Geschäftsführer auch dieses Verleihs war mein Vater (er blieb es bis 1987). Damit aber die Auswahl für das Verleihprogramm auf eine möglichst breite Basis gestellt werden konnte, brauchte es ein Festival, auf der alle in Frage kommenden Filme den Kinobetreibern gezeigt wurden: Das waren die “Hamburger Kinotage“. Festivalchef war, Sie ahnen es, mein Vater.

Mit seiner Arbeit erreichte er vor und hinter den politischen Kulissen, dass diese neuen Programmkinos eine echte Überlebenschance in Deutschland bekamen. Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda schrieb zum Tode meines Vaters: „Ohne Werner Grassmann würde es das Abaton und die Idee des Programmkinos als Ort des guten und relevanten Films nicht geben. Seine Leidenschaft und sein Glaube an die Kraft des Kinos haben die Kunstform belebt.“
____________________
* Es lag in einem Hinterhof der Schmilinskystraße im Herzen von St. Georg, gleich um die Ecke der Räumlichkeiten des ST. GEORGE HERALD.

Dieser Beitrag wurde unter Film, Medienkunde abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert