Von der Abschaffung des Happy Ends

Happy End
= Ausstieg aus einer Geschichte zum Zeitpunkt des größtmöglichen Frohsinns und der Lösung des zentralen Konflikts – eine Besonderheit des Kinos, die das wirkliche Leben nicht zu bieten in der Lage ist.

Juliane Liebert vermutete in ihrer Kritik des Films „The Circle“ (2017), dass wir von des Kinos schlimmstem Feind – der modernen US-Dramaserie und ihrer epischen Erzählweise – „inzwischen schon wieder angeödet sein“ dürften: „Als die ersten aufwendigen Serien Furore machten, waren alle begeistert. Nachdem sie zum Standard wurden, stellte sich heraus, dass diese Erzählweise auch ökonomischen Gesichtspunkten folgt. Dadurch entsteht nie eine klare narrative Form, weil die Fortsetzbarkeit immer gegeben sein muss.“ Ähnlich wie in der Sequel-Flut des Kinos existiere „praktisch keine Katharsis mehr, sondern nur noch ewige Dramatik bis zur Erschöpfung (und darüber hinaus).“

Schon der Schriftsteller Stefan Zweig sah das Problem – und fand Denker, die das noch weitaus früher getan hatten. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs schrieb er in einem Essay: „Die ungeheure Mehrzahl der Menschen hat die redlichste Absicht, an jedem außerordentlichen Geschehen starken Anteil zu nehmen, sie ist beseelt von dem Willen, ja sogar dem Wunsch, sich erschüttern zu lassen. Aber wir alle unterliegen gleichzeitig einem höheren Gesetz der Natur, die in weiser Ökonomie die Fähigkeit unserer Anteilnahme begrenzt. Starke kontinuierliche Erregungen erzeugen unweigerlich steigende Ermüdung, übermäßige Spannung, allzulang fortgesetzt, schlägt um in eine Art Lähmung. Dies erkannten schon vor zweitausend Jahren die griechischen Dramatiker als Gesetz der Tragödie, Sophokles wie Aeschylos wußten, warum sie die Dauer ihrer Dramen auf zwei, höchstens drei Stunden begrenzten. Denn steigert sich das Tragische ohne Maß, so vermindert es eher die Fähigkeit, uns zu erschüttern statt sie zu steigern. Wir alle fühlen diese verhängnisvolle Proportion: je länger das Weltdrama vor unseren Blicken dauert, je grauenhafter seine Szenen werden, je aufregender seine Episoden, umso mehr läßt unsere Fähigkeit des innerlichen Miterlebens nach.“

Ungeachtet dessen hat uns das Kino im zweiten Jahrhundert seines Bestehens von seiner liebsten Tradition zu entwöhnen versucht – zumindest in dramatischen Sujets. Das Happy End verträgt sich nicht mit immer weiter gestreckten Erzählbögen. Und selbst Serien, die schließlich zuendegehen, finden oftmals kein befriedigendes Ende. Wenn die Folge produziert wird, die sich als die letzte herausstellen wird, steht der Abbruch des Projektes ja mitunter noch gar nicht fest, weil man hofft, noch eine Staffel finanziert zu bekommen. Das verstörendste Beispiel für einen solchen dramaturgischen Interruptus dürfte ein Beispiel hinterlassen haben, bei dem zumindest versucht wurde, aus der Nummer wieder herauszukommen: die US-Version von „House Of Cards“. In den ersten Staffeln musste die Hauptfigur – eine nicht restlos überzeugende Verbindung aus Held und Schurke – alle in die Tasche stecken, sie musste vor allen Nachstellungen ihrer Gegner geschützt werden, ihre Verfolger mussten scheitern oder zumindest auf der Stelle treten. Als dann überraschend der Hauptdarsteller Kevin Spacey gecancelt wurde und man die letzte Staffel ohne ihn herstellen wollte, ließen sich all die aufgestauten Konflikte nicht mehr entwirren. Die Storyline verreckte in einem absurden Knäul aus zahllosen Todesfällen, Cliffhanger-artigen Finaletti und pathetischem Gerede mit Blick in die Kamera.

Auch im Kino haben wir es zunehmend mit Serien und Franchises (also Serienkonstrukten) zu tun. Zudem werden auch die einzelnen Filme immer länger. „Hört das denn nie auf?“ fragte kürzlich der erschöpfte „Spiegel“-Rezensent Lars-Olav Beier und erklärte sich die „Tortur“ des „horizontale[n] Erzählen[s], das auf viele Erzählstränge, komplexe Entwicklungen der Figuren und ein fortwährendes Hinausschieben des Endes setzt“ mit der Faulheit der Filmemacher: schließlich „kostet es mehr Zeit, ein knappes und konzises Drehbuch zu schreiben als ein konvolutartiges“. Er sehnte sich nach Filmen, die „uns nicht auf Jahre binden wollen. Sondern uns schon nach 100 Minuten gut gelaunt oder tief berührt wieder in den Alltag entlassen“. – Das ist die exakte Umschreibung dessen, was unsere Vorfahren vom alten Studiosystem bekamen: ein Kinobesuch mit Happy End.

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