„Uhrwerk Orange“: der unbehagliche Kultfilm

betr.: 30. Todestag von Anthony Burgess

London in einer nahen Zukunft. Allabendlich trifft sich Alex, ein Beethoven-Fan Ende 20 (in der Romanvorlage von Anthony Burgess handelt es sich um einen Teenager), mit seiner Gang, den „Droogs“ Pete, Georgie und Dim, in der Korova-Milchbar. Ihre Uniform: Melone, weißes Hemd, weiße Hose mit Tiefschutz und Springerstiefel. Von dort aus brechen die Jungs regelmäßig zu ihren nächtlichen Streifzügen in die Vorstadt auf. Sie kommunizieren in Nadsat miteinander, einem slawisch inspirierten Slang. (Auch die Ich-Erzählung von Alex für das Kinopublikum ist in diesem Duktus gehalten.)
Es sind Beutezüge, doch in erster Linie sind die gelangweilten Männer auf Gewaltexzesse aus, und wehrlose Opfer mögen sie am liebsten. Zunächst wird ein obdachloser Säufer in einer Unterführung krankenhausreif geschlagen und eine andere Gang aufgemischt, die etwas weniger originelle Army-Klamotten trägt. Doch das ist nur ein Vorgeschmack.
Alex und Co. dringen in die abgelegene Villa eines Schriftstellers ein und zwingen ihn, der Vergewaltigung seiner Frau zuzusehen. Sie töten eine reiche Hausbesitzerin, die allein mit ihren Katzen lebt. Da diese in weiser Vorahnung die Polizei alarmiert hat, wird Alex festgenommen – seine Komplizen, die er zuletzt mit seinem herrischen Gehabe verärgert hatte, lassen ihn im Stich.
Alex kommt ins Gefängnis, wo es ihm gelingt, sich beim Geistlichen der Einrichtung anzubiedern. Außerdem entzückt er die Vollzugsbeamten durch militärisch-gehorsames Auftreten. Als er von der Ludovico-Therapie hört, die der neue Premierminister angeordnet hat und nach deren Durchlaufen die vorzeitige Entlassung winkt, bewirbt er sich und wird angenommen.
Man unterzieht ihn einer Gehirnwäsche, die ihm die Lust auf Sex und Gewalt nehmen soll. Gefesselt, unter dem Einfluss von Medikamenten und mit arretierten Augenlidern muss er sich täglich stundenlang Filme von Tötungen und Folterungen ansehen (ein Programm, das weitaus dezenter ist als der Film selbst). Auch Nazi-Aufmärsche und Hitler-Reden sind darunter.
Der Soundtrack setzt Alex ganz besonders zu: eine verpoppte Version seiner Lieblingskomposition: Beethovens Neunte. Alex wird zu einem „Uhrwerk Orange“, einem Organismus, der wie auf Knopfdruck funktioniert.
Am Abschlusstag leckt er unterwürfig einer sadistischen Tunte die Schuhsohlen und widersteht dem Impuls, eine nackte Blondine zu begrapschen. Der Premierminister ist begeistert.
Wieder auf freiem Fuß, jedoch nunmehr wehrlos, entdeckt Alex, dass seine Eltern ihn durch einen Adoptivsohn ersetzt haben. Die er einst misshandelte, rächen sich: zuerst die Obdachlosen, dann seine Kumpels, die im Rahmen einer weiteren „fortschrittlichen“ Maßnahme der neuen Regierung zu Polizisten geworden sind. Der seit ihrem Zusammentreffen im Rollstuhl sitzende und verwitwete Schriftsteller nimmt ihn auf. Er will Alex als Märtyrerfigur für seine Umsturzpläne nutzen. Und Rache üben.
Alex stürzt sich aus dem Fenster – und erwacht in einem Gipsbett.
Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, leitet die Regierung Maßnahmen zu seiner Rekonditionierung ein. Die ist aber kaum noch nötig, denn wie wir an seinem irren Blick und an seiner offenherzigen Erzählerstimme erkennen, ist Alex schon wieder ganz der Alte. Künftig stellt er seine mörderischen und sexuellen Triebe in den Dienst des Staates.

Wem die Inhaltsangabe von „Uhrwerk Orange“ stumpf und gewaltverherrlichend erscheint, der könnte beim Betrachten des Films unter Umständen einen ähnlichen Eindruck haben. Tatsächlich fühlte ein erheblicher Teil des Publikums so (und viele, die den Film gar nicht erst sehen wollten, weil sie der Inhalt abschreckte) und protestierte gegen ihn. Die Aufführungsverbote und Boykottaufrufe waren eine unbezahlbare Reklame, und wer daraufhin ins Kino ging, kam auf seine Kosten. Die Gewaltdarstellungen sind sehr explizit und werden durch ihre schrille Überzeichnung und den psychedelischen Kitsch-Look für niemanden angenehmer, der Brutalität nicht schätzt – ebensowenig wie durch die eifrigen Hinweise der Macher, es ginge ihnen doch nur darum, die Abscheulichkeit von Gewalt vorzuführen und anzuprangern.

Dass die Kritik nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist, lässt sich schon daran ablesen, dass die Mitwirkenden und die Familie des Regisseurs „A Clockwork Orange“ in den zahllosen seither geführten Interviews unentwegt verteidigen, um nicht zu sagen: rechtfertigen. Auch eine neuere Doku über die Romanvorlage hat praktisch kein anderes Thema. Obwohl sie zum Weltruhm des Buches erheblich beitrug, war der Autor übrigens unzufrieden mit der filmischen Umsetzung. Anthony Burgess beklagte sich, Kubrick habe – wie auch die amerikanischen Verleger des Buches – das 21. Kapitel weggelassen und damit seine moralische Pointe sabotiert.

Was macht „A Clockwork Orange“ nun zum wahrhaftigen Kultfilm? Es ist eine Maßnahme, die der Regisseur (möglicherweise ohne Marketing-Hintergedanken) selbst ergriffen hat. Wegen der Proteste und Drohungen in den USA, bat Kubrick die Produktionsfirma darum, ihn in England zurückzuziehen, da er um seine Sicherheit und die seiner Familie fürchtete. Dass Warner Bros. dieser Bitte entsprach, spricht sowohl für das enorme Ansehen des Regisseurs als auch für die Gewinne, die der Film im Rest der Welt einspielte und die den britischen Markt offenbar entbehrlich erscheinen ließen.
Stanley Kubricks Landsleute mussten sich jahrelang mit VHS-Kopien und Sondervorstellungen begnügen oder – wenn diese nicht zu Hand waren – darüber spekulieren, welches Meisterwerk der Filmkunst ihnen da vorenthalten wurde.

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