Der Bürger in der Kunst

Die Idee des Bürgers in seiner Geburt war es, „niemandes Herrn und niemandes Knecht“ zu sein. Aber mit dieser Vorstellung, später haben wir sie „Demokratie“ und „freie Marktwirtschaft“ genannt, ist weder Macht noch Ausbeutung, weder Schmerz noch Gewalt verschwunden. Es gibt dafür nur andere Worte und andere Bilder. Je bürgerlicher eine Gesellschaft ist, desto „maskierter“ sind Macht und Ausbeutung, Gewalt und Schmerz. Für eine Zeit war es eine Aufgabe der Kunst, genau dies genau zu sehen und dieses genauere Sehen (gleichsam im Wettlauf mit den Techniken von Verdrängungen und Verschleierungen) zu vermitteln. Diese Aufgabe der Kunst, die Verpflichtung zur Genauigkeit, scheint ein wenig altmodisch geworden und ersetzt durch eine Verpflichtung zur kreativen Subjektivität. Die Fähigkeit der Bürger im Allgemeinen, sich vom Schauspiel der radikalen Subjektivität von sich selber zu befreien, ist ausgesprochen begrenzt.

Denn es sind andererseits Menschen, die nichts anderes als Bürger sein können, und es sind, in den meisten Filmen, Bürger einer Gesellschaft, die nicht mehr bürgerlich ist. Sie ist in medialer, moralischer und materieller Auflösung begriffen. Die Menschen sind zu einer Freiheit verurteilt, sagt Jean Paul Sartre, zu der sie nicht geboren sind. In seiner Ästhetik der Genauigkeit fügt Michael Haneke hinzu: Die Menschen sind zu Einsamkeit verurteilt, zu der sie niemand erzogen hat. Dieses „unlebbare Leben“ hat demnach eine genau soziale Genesis. Denn neben der Verurteilung zur Einsamkeit, unter anderem durch Eltern, die glauben, die Institution (die Familie) retten zu müssen und nicht den Menschen, tritt eine radikale Beschneidung der Handlungsspielräume ein. So sind Menschen zugleich eingesperrt (ganz direkt, in Architekturen, in Ritualen, in Arbeitszusammenhängen, in Erwartungen, in Abhängigkeiten) und sich selbst überlassen.

Georg Seeßlen in seinem Nachwort zu „Haneke über Haneke“, Alexander Verlag Berlin, 2012. Dieser kurze Auszug ist wiederum leicht eingekürzt / redigiert.

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