Geschichten im geschützten Raum

betr.: Sprechen am Mikrofon / aus dem Unterricht

Die sicherste Methode, um beim Lesen vom Blatt Fehlbetonungen zu produzieren, ist, über die Betonung nachzudenken. Betonungen werden nach Gefühl gesetzt und misslingen im Alltag nie. Im Alltag denken wir aber nicht über Betonungen nach. Wir wissen, was wir inhaltlich zu sagen haben.
Ich weise im Unterricht immer wieder darauf hin, dass alle Gedanken nur um den Inhalt des Textes kreisen dürfen, um die erzählte Geschichte. Kein Text (nicht einmal dieser hier) handelt davon, wie man ihn zu betonen hat.

Das Nachdenken über die Betonung ist aber nur eine von vielen Ablenkungen, die den fehlerfreien Vortrag stören oder verhindern. Jede Idee, die den Vortragenden vom Inhalt der Geschichte wegführt – Liebeskummer, die Steuererklärung, Hunger, Ärger in der Familie oder auch schöne Dinge wie Vorfreude aller Art – ruiniert den Vortrag. Routinierte Vorleser verfallen dann in einen Singsang (der ihnen selbst sehr professionell vorkommt), Anfänger wählen sich Silben aus, die sie betonen möchten (grundsätzlich die falschen und immer zu viele). Beides produziert eine unbrauchbare Aufnahme! Keine weniger gute, eine völlig unbrauchbare. Eine Lesung, der der Zuhörer unmöglich folgen kann.
Ein solches Ergebnis belegt zweifelsfrei, dass der Vortragende den Text nicht durchdringt.

Voraussetzung für einen guten Vortrag ist, dass alles Ablenkende ferngehalten wird. So wie in einem OP ein Heer von Helfern den Chirurgen etwa durch das Anreichen der Instrumente vor allem bewahrt, was üblicherweise stört und ablenkt. Ein Chirurg wird während einer Operation auch nicht am Handy herumfummeln – das wollen wir jedenfalls hoffen.
Beim Vorlesen müssen wir ohne Helfer genau den selben Idealzustand herstellen. Wir müssen um uns her eine Blase erschaffen, die jegliche Ablenkung fernhält. Nur so können wir der Geschichte folgen. Und nur wenn wir das können, kann es auch unser Zuhörer.
Das bunte bemalen einzelner Textstellen darf man in diesem Zusammenhang übrigens nicht übertreiben. Solche Markierungen können den Fokus sehr unglücklich verschieben.

Wenn diese Konzentration gelingt – nennen wir sie den OP-Modus -, bewirkt sie das Verschwinden des evolutionären Zeitdrucks, unter dem wir im Alltag praktisch unausgesetzt stehen und den wir uns sogar selbst auferlegen. Dieser sprichwörtliche „Stress“ verlässt viele von uns selbst am Feierabend oder im Urlaub nur zögerlich.
Die meisten Vorträge im Unterricht klingen getrieben. Nichts fällt schwerer als auf Anweisung das Lesetempo zu verlangsamen. Einige mogeln und bremsen sich immer wieder aus, indem sie unnötige Pausen setzen (sie denken also nicht nur über die Betonung nach, sondern außerdem über die Pausen!). Eine wirkliche Verlangsamung wird aber nur durch das Dehnen der Vokale, der Umlaute und der geeigneten Konsonanten erzielt – wie beim Abspielen eines YouTube-Videos mit halber Geschwindigkeit.
Erst unter dieser Voraussetzung kann der Zeitdruck, der uns höheren Säugetieren eingegeben und anerzogen ist, von uns abfallen, und wir können uns auf den Inhalt einlassen. Dann betonen wir nach Gefühl.

Wer ein Buch gut vorliest, erlebt den selben Effekt, wie der andächtige Zuhörer: der Alltag fällt von ihm ab.

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