Der erbarmungslose Arm des Tontechnikers

betr.: Die Ausblende im Zeitalter des Streamings

Der Musikproduzent Jack Antonoff hat dieser Tage darauf hingewiesen, dass Ausblenden schlecht für das Streaming sind, denn „wenn ein Lied am Schluss einfach immer leiser wird, dann wird es nicht in so viele Playlists aufgenommen, weil die Streamingfirmen wollen, dass die Musik immer weiterläuft.“
Wer hätte das gedacht? Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich dem Zeitgeist ganz nah, in einem zufälligen kleinen Zusammenstoß, einer knuffigen Kollision wie im Autoscooter, die sofort vorübergeht und nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein wird.

Beides ist mir unendlich fremd: das Streamen von Musik und die Ausblende am Ende eines Songs. Noch einmal kurz Jack Antonoff (der muss es schließlich wissen) zum ersteren Stichwort: „Es ist irre, dass man heute auf dem gesamten Musikkatalog der Geschichte ganz einfach zugreifen kann. Und ich habe mitbekommen, dass viele Leute nur noch ein paar Sekunden von einem Lied hören, um dann gleich zum nächsten zu switchen.“ Stimmt! Viel Spaß, ihr armen Hunde da draußen, ihr habt mein Mitgefühl. (Vielleicht solltet ihr aber auch einfach mal an eurem Geschmack arbeiten. Wer ständig Songs anspielt, die ihm nach wenigen Sekunden schon auf die Nerven gehen, hat vielleicht einfach keine Ahnung davon, was für ihn gut ist.)

Aber ich wollte mich ja heute gar nicht über das Streaming aufregen, sondern über die Ausblende, die Abblende, das Fade-Out.
Die Jazzmusiker der Schellackzeit verfügten noch nicht über die technische Möglichkeit, sich aus ihren Tunes herauszuschleichen. Viel spricht dafür, dass sie diese Option – hätte man sie ihnen angeboten – als vulgär empfunden und noch eine ganze Weile ungenutzt gelassen hätten. Die Nachspiele und Tusch-Abschlüsse ihrer klassischen Aufnahmen sind einfach zu verspielt, zu krönend, zu sehr eine Belohnung für Künstler und Publikum gleichermaßen.
Dann hielt das Tonband Einzug, und es war nicht länger nötig, eine Aufnahme in einem Durchlauf fehlerfrei und bei gleichzeitiger Anwesenheit und Inspiration zu absolvieren. Das erleichterte und ermöglichte vieles, aber eben auch die Ausblende. Kein Musiktitel musste jetzt mehr zuendegebracht werden. Man konnte den kreativen Prozess einfach irgendwann abbrechen, in eine Dauerwiederholung des Refrains übergehen, den Regler runterziehen und eine rauchen.
Dieses Mittel wurde vor allem in der Popmusik dankbar genutzt, doch auch im Jazz musste man nun damit rechnen.
Miles Davis‘ erstes in stereo produziertes Album mit Variationen über „Porgy & Bess“ (1958 eingespielt, 1959 veröffentlicht) enthält einige Fade-Outs, die vermutlich den Produktionsbedingen geschuldet waren. Studiozeit war (und ist) spinneteuer, und geprobt wurde nur unmittelbar vor der Aufnahme. Auch einige Schnitte, die auf diesem Album zu hören sind, können den Ansprüchen des Meisters nicht genügt haben.

Selbstverständlich gibt es auch den ganz famosen, künstlerischen Umgang mit der Ausblende – vor allem in der Instrumentalmusik. So bei Carlos Santanas Evergreen „Samba Pa Ti“, bei den wichtigsten Arbeiten von Jean-Michel Jarre, Mike Oldfield und The Alan Parsons Project.
Und es gibt einige Blenden, die so unsagbar ärgerlich sind, dann man dem Tontechniker unterstellen möchte, er wollte einfach früher nach Hause und ging, ohne den Musikern bescheidzusagen. Unvergessen und unübertroffen: der barbarische Exit aus Frank Sinatras „Strangers In The Night“. – Nun gut, es ist immerhin möglich, dass es in diesem Falle der Sänger war, der einfach aufgehört hat, nachdem der das berühmteste „Dubidu“ der Tonträgergeschichte improvisiert hatte. Bekanntlich hat Sinatra diesen Song (und seinen deutschen Komponisten) gehasst.

Ein letztes Mal Jack Antonoff, der ungeachtet seiner Kenntnisse der Gepflogenheiten des Streamings sagt: „Obwohl ich das weiß, kann ich nicht auf das Ausblenden verzichten, wenn ich denke, dass ein Song das braucht. (…) Ein Fade-Out kann etwas sehr Wertvolles sein. Einer meiner Lieblingssongs ist ‚Dig It‘ von den Beatles. Das ist ein Lied, das ein- und ausgeblendet wird. Und als Zuhörer hat man das Gefühl, den Moment besonders zu erleben, in dem die Lautstärke auf- oder abgedreht wird.“
Das mir doch wieder eine dieser Ausnahmen zu sein.

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