Zum Leuchturm

betr.: Lesen vom Blatt 7 sprechen am Mikrofon

In einem Artikel über die Suche einer Inselverwaltung nach dem neuen Leuchtturmwärter las ich, was der scheidende Kollege über seinen Alltag erzählte. Da ging es auch um Kleinigkeiten. Es sei wichtig, sein Tempo zu finden, wenn man die 161 Stufen hochsteigt (die man nach dem allmorgendlichen Hissen der Flagge und dem Genuss der Aussicht auch wieder runtersteigen muss). Am Anfang sei man zu schnell, immer zu schnell. Dann gehe einem auf halber Strecke die Puste aus.

Beim Lesen vom Blatt ist das genauso wichtig. Das Tempo muss von Anfang an stimmen. Das heißt: es darf nicht zu hoch sein. Auch hier ist ausnahmslos jede/r am Anfang zu schnell.
Dabei werden wir von einer Prägung geleitet, die viel älter ist als wir selbst. Sie ist uns eingeimpft, seit wir damals im Neandertal schneller sein mussten als die anderen Säugetiere, um zu überleben.
So beeilen wir uns auch beim Vorlesen, ganz automatisch und ohne es überhaupt zu merken. Das Ausgehen der Puste – um im Bild des Leuchtturmwärters zu bleiben – ist allerdings nicht die schlimmste Folge dieser Hast. Dazu kommt es in der Regel gar nicht erst. Vorher wird über die eigenen Füße gestolpert. Und wenn das passiert, hat man seine Zuhörer schon längst verloren.

Der Artikel verriet nicht, wie lange es braucht, um dieses „eigene“ Tempo auf der Treppe zu finden. Beim Lesen ist es – wie ich als Lehrer immer wieder feststelle – mit das Schwerste überhaupt. Manche schaffen es wochenlang nicht und geben entnervt auf. Manche schaffen es monatelang nicht und geben dann besonders entnervt auf. Das geht den allermeisten so. Eine besonders wackere Schülerin hat Jahre gebraucht und ist jetzt total begeistert von ihrem raschen Vorankommen.

Alle Fortschritte, auf die wir im Unterricht gemeinsam hoffen, basieren auf dem gemessenen Tempo. Sämtliche Fehler, die anfangs so zahlreich passieren, beruhen auf der prähistorischen Veranlagung zur Eile. Denn dann fehlt die Zeit, um den Text vorausschauend zu lesen und ihn zu begreifen, ehe der Mund sich öffnet. Beim Vorleser entsteht kein Vertrauen in die Durchführbarkeit des Ansinnens. Wer dann aufgibt, geht mit dem Gefühl nach Hause, es könne ja sowieso nicht klappen. (Dieses Gefühl wird von dem nagenden Verdacht überlagert, es ginge vielleicht doch, und nur man selbst sei zu doof dazu.)

Es liegt auf der Hand: vom Blatt zu lesen, ist wesentlich schwerer als ein guter Leuchtturmwärter zu sein. Und das sage ich bei allem Respekt vor dessen Aufgaben (ich habe ja den Artikel gelesen).  

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