Der Ich-Erzähler und Du (1)

betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon

Über die Herausforderung, einen Ich-Erzähler zu gestalten

Marcel Reich-Ranicki hat oft und gern davor gewarnt, einen beschränkten Charakter (sei es ein Kind) zum Helden, gar zum Erzähler seiner eigenen Geschichte zu machen. Damit war es ihm so ernst, dass er 1959 mit der Rezension des späteren Welterfolgs „Die Blechtrommel“ einen der seltenen Verrisse ausgab, die er später wieder einkassierte (wenn es überhaupt einen zweiten derartigen Fall gegeben hat).

Nun ist dieser Oskar Mazerath zwar ein Halbwüchsiger, verfügt aber über einen Durchblick, der seine Unreife mehr als wettmacht.
Alles in allem bestätigen die retardierten Helden der Weltliteratur Reich-Ranickis Vorbehalte durchaus.*

Das gilt auch für den Ich-Erzähler im ersten Teil von William Faulkners „Schall und Wahn“, den geistig behinderten Sohn der Südstaatenfamilie Compson. Schon der Buchtitel verweist auf diese Besonderheit, eine Formulierung aus dem berühmten Monolog des „Macbeth“, der das Leben als eine Geschichte voll Tollheit bezeichnet, die von einem Deppen erzählt wird: „full of sound and fury, told by an idiot“.

Es fällt dem Autor ebensoschwer, den Tonfall dieses Erzählers überzeugend zu treffen wie ihn durchzuhalten. Diese Schwierigkeiten (in der Hoffnung, das Ergebnis möge der Mühe wert sein) kann der stille Leser, für den Literatur ja zunächst gedacht ist, recht gut ausgleichen. Der Hörbuch-Interpret gerät in große Verlegenheit. Er muss seine Gestaltung so anlegen, dass sie den Einschränkungen des Hauptcharakters Rechnung trägt, darf sich dabei aber nicht plagen, weil sich die von ihm empfundene Mühe sofort auf den Zuhörer überträgt. Außerdem neigen wir beim Hören dazu, von allzu vordergründigen Effekten schnell genervt zu sein. Die Methode sich beim Vorlesen einfach auf die im Text angelegten Marotten zu verlassen, greift zu kurz. Wir kennen diese Probleme aus der schauspielerischen Darstellung derangierter Helden (und ihrer Synchronisation) und sind entsprechend beeindruckt, wenn sie – selten genug – wirklich überzeugt. Der halbwüchsige David Bennent schafft das z.B. in der berühmten Verfilmung der „Blechtrommel“, die er auch als Off-Stimme begleitet. Als offen artifizielle, „geskriptete“ Off-Stimme.

Der Ich-Erzähler in „The Sound And The Fury“ ist kein inselbegabter Knirps wie der Blechtrommler Oskar, sondern der im Erwachsenenalter noch immer kindliche Benjy, der uns vom Niedergang seiner Familie berichtet. Dass wir ihn selbst in seiner Erzählung niemals reden hören, er aber die Dialoge der übrigen Personen (soweit erkennbar) wörtlich wiedergibt – mit all den Schrullen, die diese nun wiederum pflegen – markiert eine weitere Inkonsequenz in Faulkners Ansatz. Der Autor setzt außerdem viele Textpassagen kursiv, ohne dass erkennbar wäre, was diese vom übrigen Text unterscheidet: Erzählperspektive und Vergangenheitsform sind gleich. (Ketzerische Frage: tut er dies etwa aus reiner Verlegenheit?)
Wie soll man beim Vortrag damit umgehen, wie das Kursive hörbar machen?

Darüber muss man sich im Vorfeld klarwerden. Ich würde meine Überlegungen bei der Einrichtung einer solchen Lesung vorab telefonisch mit der Regie besprechen, um sicherzugehen, dass wir alle miteinander gut vorbereitet und uns einig sind, wenn das Mikrofon sich öffnet.

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* In einem kurzen Text und bei einem Autor wie Richard Matheson wird aus dieser Herausforderung ein genialer Kunstgriff. Siehe https://blog.montyarnold.com/2014/11/20/bart-simpsons-siamesischer-zwilling/

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