Der Ich-Erzähler und Du (2)

betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon

Über die Herausforderung, einen Ich-Erzähler zu gestalten

Fortsetzung vom 5. April 2024

Werden Fragen dieser Art nicht vor Beginn der Aufnahme geklärt (und unterwegs im Hochgefühl der Improvisation oder ähnlicher Schlampereien „einfach mal weg-gelesen“), verderben sie das Ergebnis und fallen dem Zuhörer auf die Füße.

In der „ARD Audiothek“ findet sich eine Lesung von Regina Münch, die sehr fleißig und mit angemessener Sorgfalt Literaturklassiker für das Online-Angebot des WDR einliest. Im Falle der „Sherlock Holmes“-Geschichte „Das Landhaus in Hampshire“ unterläuft ihr (bzw. ihrer Regie) ein Fehler, da der Text besondere Wachsamkeit erfordert hätte.
Frau Münch nimmt zunächst die Perspektive des allwissenden Erzählers ein. Als Holmes und Watson Besuch von einer jungen Frau bekommen, die den berühmten Detektiv um Rat bittet, folgt ein längerer Abschnitt, der in einer Verfilmung vermutlich als Rückblende umgesetzt würde. Die schüchterne Violet Hunter schildert ihr Treffen mit ihrem künftigen Arbeitgeber, einem dicken, temperamentvollen Herrn namens Jephro Rucastle, der ihr etwas unheimlich ist. In dieser Textpassage (der Geschichte in der Geschichte) gestaltet Frau Münch die wörtliche Rede dieses Mannes mit viel Ausdruck. Anstatt Rucastles Worte mit der Stimme der verunsicherten Miss Hunter zu zitieren, chargiert sie dessen markanten Sound auf direktem Wege. Dadurch werden wir aus dem Zimmer in der Baker Street, in der wir ihrer Schilderung lauschen, zu dem zurückliegenden Treffen und in das Büro der Arbeitsvermittlerin mitgenommen. So etwas funktioniert – wie gesagt – im Film. Ebenso im Hörspiel (wie wir in der älteren Hörspielfassung von „Das Landhaus in Hampshire“ erleben können, wo Gerd Duwner den Rucastle spricht. Diese Aufnahme steht in der gleichen Mediathek bereit). In einer Lesung ist dieses Vorgehen verwirrend. Wäre Miss Hunter die Erzählerin der kompletten Geschichte, würde es so eventuell funktionieren (obwohl die saftige Imitation Herrn Rucastles nicht zum zurückhaltenden Charakter der jungen Frau passt).
Zugegeben: dieses Problem ist im Originaltext von Arthur Conan Doyle bereits angelegt, wo Miss Hunter alle Beteiligten wörtlich zitiert, anstatt mehr mit indirekter Rede zu arbeiten. Allein: es hilft nichts.

Ich hatte einmal mit einem Verlagslektor zu tun, der grundsätzlich den Einsatz von wörtlicher Rede missbilligte. Und so vermied ich sie nach Möglichkeit in meinen Texten, um ihm nicht unnötig zu irritieren. In dieser Grundsätzlichkeit finde ich seine Haltung falsch – ganz offensichtlich hat er in seiner Funktion sehr viele schlechte Dialoge lesen müssen.
Im Falle der beschriebenen Szene in „Das Landhaus in Hampshire“ würde ich ihm zustimmen.

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