Neulich schwärmte ich einem Kollegen von Tatum O’Neal vor, die als Halbwüchsige an der Seite ihres Vaters in der Komödie „Paper Moon“ auftrat. Sie bekam für ihr Leinwanddebüt sogleich einen Oscar, und ich kam nun gut 50 Jahre später zum selben Ergebnis. Ich sagte, ich sei wieder einmal platt gewesen angesichts ihres Spiels (ich habe den Film schon häufiger gesehen) und hielte dies für die größte schauspielerische Leistung eines Mädchens in einem kommerziellen Kinofilm überhaupt.
Mein Kollege war ausdrücklich dagegen, und die sprungbereite Grundsätzlichkeit seines Abtuns dieser Darbietung machte mich neugierig.
Das Ganze war ein Missverständnis. Auf mein Nachfragen stellte sich heraus, dass er sich für die schauspielerische Leistung im Grunde nicht interessierte. Er erklärte mir im Stil eines Juristen, warum der Wert von Tatum O’Neals Leistung heute nicht mehr gültig sei: weil der Film nun einmal sehr alt sei und heute schon deshalb nicht mehr überzeugen könne. Außerdem sei O’Neal ja die Tochter eines Schauspielers, und da sei ihr Talent ohnehin obligatorisch … und noch eine Reihe weiterer von mir nicht widerlegbarer Kriterien.
Auf meine provozierende Nachfrage, welche junge Kollegin in irgendeinem anderen Film denn besser gespielt habe, wusste er minutenlang keinen Namen zu nennen (es ging ihm ja auch ums Prinzip). Schließlich fiel ihm Kirsten Dunst in „Interview mit einem Vampir“ ein, ein Film, den wir beide seinerzeit im Kino miterlebt haben. Begeistert war er ganz offensichtlich nicht von diesem grundsoliden Beispiel, aber Dunst ist nun einmal ein deutlich aktuellerer Fall als Tatum O’Neal.
Abgesehen von der Bestätigung der traurigen Erkenntnis, dass alles Alte (also alles nicht selbst Miterlebte) bei den meisten Menschen zu Abwehrreaktionen führt – und das sogar beim Film, einer Kunstform, die ihren Reiz auch aus ihrer langfristigen Abrufbarkeit bezieht -, erinnerte ich mich daran, was Alfred Hitchcock im Zusammenhang mit „Rear Window“ erzählte. Er bezog sich auf Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin „in einem seiner Bücher über Kunst der Montage. Da berichtet er über das Experiment, das sein Lehrer Lew Kuleschew gemacht hat: Er zeigt eine Großaufnahme von Iwan Mosjoukine und lässt darauf die Einstellung von einem toten Baby folgen. Im Gesicht Mosjoukines ist Mitleid zu lesen. Er nimmt die Einstellung des toten Babys weg und ersetzt sie durch ein Bild, das einen vollen Teller zeigt, und jetzt liest man aus der selben Großaufnahme Hunger. Genauso nehmen wir eine Großaufnahme von James Stewart. Er schaut zum Fenster hinaus und sieht zum Beispiel ein Hündchen, das in einem Korb in den Hof hinuntergelassen wird. Wieder Stewart, er lächelt. Jetzt zeigt man anstelle des Hundekörbchens ein nacktes Mädchen, das sich vor einem offenen Fenster dreht und wendet. Man nimmt wieder die selbe lächelnde Großaufnahme von James Stewart, und jetzt sieht er aus wie alter Lüstling.“
Auch der Regisseur Zbynek Brynych hatte so eine Geschichte auf Lager: „Einmal sollten sich Zwei durch eine Glasscheibe in einer Haustüre hindurch küssen. Aber weil einer von ihnen verhindert war, musste ich sie getrennt voneinander filmen. Also ließ ich die beiden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen alleine das Glas küssen und dabei in die Kamera sehen. Als ich das später dann zusammenschnitt, haben die beiden einander dann geküsst, wirklich geküsst.“
Solche Demonstrationen der Macht des Filmschnitts kommen mir immer in den Sinn, wenn im Film mit Tieren oder Kindern gearbeitet wird – und mich die Ergebnisse nicht vollauf überzeugen.
An Kirsten Dunst habe ich keine derartige Erinnerung, aber auch sie wird von der Magie am Schneidetisch in hohem Maße profitiert haben.
Bei unserer Diskussion kam mir vor allem Helena Zengel in den Sinn, die 2019 großen Applaus als für ihr Portrait eines verhaltensgestörten Mädchens in dem Drama „Systemsprenger“ erhalten hat. Die beachtliche Wirkung ihrer Wutausbrüche, ihres Schmollens, ihrer ganzen Totalverweigerung beruht auf dem Verhältnis, in das sie gesetzt wird: die Gegenschüsse auf besorgte, geduldige oder verzweifelte Erwachsene. Und auch das soll hier nicht verschwiegen werden: nichts ist schauspielerisch so leicht zu markieren wie Verweigerung und Muffigkeit aller Art (wiewohl es eine ganze Reihe prominenter Schauspielerkinder gibt, die auch damit überfordert sind.)
„Systemsprenger“ war gut gemacht, aber als Zeuge der Geburt einer jugendlichen Superbegabung habe ich mich nicht gefühlt. Ich dachte hin und wieder an James Stewart und an Umschnitte auf Hundekörbchen und fotografiertes Essen.
Tatum O’Neal spielt nicht nur Einzelbilder, die passend montiert werden müssen. Sie interagiert, taktiert und reagiert in längeren Einstellungen und hat sogar schweigend und von hinten gefilmt große Präsenz.* Sie moduliert ihre Stimmungen unentwegt (wie die Launen der Jugend es mit sich bringen) und bringt die typische Sehnsucht Heranwachsender zum Vorschein, als Individuum wahr- und ernstgenommen zu werden. Auch in Solo-Szenen – etwa, als sie vor dem Spiegel überprüft, ob sie schon weibliche Reize entwickelt und zu einem selbstkritischen Ergebnis kommt – ist sie komplex und bestrickend. Wann immer Tatum O’Neal ins Bild tritt, hat man das Gefühl, sie habe im Off unterdessen weitergelebt und weitergefühlt.
Klar: so etwas zeichnet jeden guten Filmschauspieler aus (auf der Bühne ist diese Disziplin etwas leichter zu verwirklichen), doch allzu oft sehen wir einfach nicht so genau hin.
Vor allem bei Kindern und Tieren.
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* Als Anspielpartnerin für Madeline Kahns denkwürdigen Monolog: https://blog.montyarnold.com/2019/07/29/13995/