betr.: 64. Geburtstag von Dietmar Bär / Lesen vom Blatt
Fortsetzung von 24.10.20222
Es kann vorkommen, dass der erste Satz eines Textes erst an zweiter Stelle kommt, will heißen: der eröffnende, die Situation etablierende Satz hat ein Vorspiel, das auch später platziert werden könnte, ohne das Verständnis zu behindern.
Ein Beispiel hierfür ist der Prolog eines der beliebtesten Erzählwerke der Jahrtausendwende: „Verblendung“, erster Teil der „Millennium-Trilogie“ von Stieg Larsson, die so erfolgreich war, dass sie in kürzester Zeit in verschiedene andere Medien übertragen und zweimal verfilmt wurde. Zu den berühmtesten Buchanfängen gehört er nicht, aber das kann ja noch werden …
Es wäre auch möglich, die beiden eröffnenden Sätze durch einen Doppelpunkt zu verbinden. Doch so steht es geschrieben:
Es wiederholte sich alljährlich. Der Empfänger der Blume feierte seinen zweiundachtzigsten Geburtstag. Sowie die Blume bei ihm angekommen war, öffnete er das Paket und entfernte das Geschenkpapier. Danach griff er zum Telefonhörer wählte die Nummer eines ehemaligen Kriminalkommissars, der sich nach seiner Pensionierung am Siljan-See niedergelassen hatte. Die beiden Männer waren nicht nur gleich alt, sie waren sogar am selben Tag geboren, was in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Der Kommissar wusste, dass der Anruf um elf Uhr morgens nach der Postzustellung eingehen würde, und trank Kaffee, während er wartete. Dieses Jahr klingelte das Telefon bereits um halb elf. Er nahm den Hörer ab und sagte hallo, ohne sich mit Namen zu melden.
„Sie ist angekommen.“
„Was für eine ist es dieses Jahr?“
„Keine Ahnung, was für eine Blume es ist. Ich werde sie bestimmen lassen. Weiß ist sie.“
„Kein Brief, nehme ich mal an?“
„Nein. Nur die Blume, sonst nichts. Der Rahmen ist derselbe wie letztes Jahr. So ein Billigrahmen zum Selberzusammenbauen.“
„Poststempel?“
„Stockholm.“
„Handschrift?“
„Wie immer, alles in Großbuchstaben. Gerade, ordentliche Buchstaben.“
Damit war das Thema erschöpft, und ein paar Minuten saßen die beiden schweigend am jeweiligen Ende der Leitung. Der pensionierte Kommissar lehnte sich am Küchentisch zurück und zog an seiner Pfeife. Er wusste jedoch, dass von ihm keine erlösende oder bestechend intelligente Frage mehr erwartet wurde, die ein neues Licht auf diese Angelegenheit hätte werfen können. Diese Zeiten waren seit vielen Jahren vorbei, und das Gespräch der beiden alternden Männer hatte beinahe schon den Charakter eines Rituals – eines Rituals um ein Mysterium, dessen Lösung keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt interessierte.
Von Dietmar Bär stammt die gekürzte, aber unübertroffen feinfühlige Hörbuch-Fassung des Dreiteilers.