Prima vista 0,5: Naturgeschichte von Selborne

betr.: Lesen vom Blatt / Übung

Eine Prima Vista Lesung in abgemilderter Form lässt sich durchführen, wenn man sich verschiedene Übersetzungen der selben Textpassage vornimmt: die erste wird still gelesen, die zweite laut.
Der Inhalt ist bekannt, der Wortlaut ändert sich.

Heutiges Beispiel: aus „Naturgeschichte von Selborne“ von Gilbert White

Variante 1 (Übersetzung von Jürgen Abel, 1975)

… wir hatten in diesem Dorf vor mehr als zwanzig Jahren einen schwachsinnigen Jungen, an den ich mich noch gut erinnere. Von Kind auf fühlte er sich stark zu Bienen hingezogen. Er ernährte sich von ihnen, er beschäftigte sich mit ihnen – sie waren der einzige Gegenstand seines Interesses. Und so wie viele Menschen dieser Art selten mehr als einen Gesichtspunkt kennen, so widmete dieser Knabe alle seine geringen Fähigkeiten diesem einen Gegenstand. Im Winter verschlief er seine Zeit in seines Vaters Haus am Kamin in einem Zustand der Betäubung, und nur selten kam er hinter dem Kamin hervor. Im Sommer aber ging er auf den Feldern und an den sonnenbeschienenen Ufern des Flusses umso lebhafter seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Honigbienen, Hummeln, Wespen waren seine Beute, wo immer er sie fand. Er hatte keinerlei Angst vor ihren Stichen, sondern ergriff sie einfach nudis manibus, beraubte sie ihrer Waffen und sog ihre Körper aus, der Honigsäckchen wegen. Manchmal verwahrte er eine Anzahl dieser Gefangenen zwischen Hemd und Haut, manchmal sperrte er sie in Flaschen. Er war ein richtiger Merops apiaster oder Bienenvogel und eine Plag für alle, die Bienen hielten; denn er schlich sich in ihre Bienengärten, hockte sich vor die Bienenhäuschen, klopfte mit den Fingern an die Bienenkörbe und griff sich die Bienen, wie sie herauskamen.
Es war allgemein bekannt, dass er um des Honigs willen, den er so leidenschaftlich begehrte, ganze Bienenkörbe umstieß. Wo Met bereitet wurde, strich er um die Wannen und Kessel herum und bettelte um einen Schluck Bienenwein, wie er zu sagen pflegte. Und wenn er herumlief, pflegte er mit den Lippen ein summendes Geräusch zu machen, das ganz dem Surren der Bienen glich.

Variante 1 (Übersetzung von Rolf Schönlau, 2021)

… hier im Dorf gab es vor über zwanzig Jahren einen idiotischen Jungen, der, wie ich mich gut erinnere, schon als Kind eine große Vorliebe für Bienen hatte, die für ihn Nahrung und Vergnügen, ja sein ein und alles waren. Da Menschen wie er selten über mehr als ein Interessengebiet verfügen, richtete der Bursche seine geringen Fähigkeiten auf dieses eine Zeil aus. Im Winter döste er im Hause seines Vaters, wie in eine Starre verfallen, am Kamin vor sich hin und verließ nur selten seinen Platz, doch im Sommer war er quicklebendig, immer auf der Jagd in den Feldern und an sonnigen Böschungen. Bienen, Hummeln und Wespen waren seine Beute, nach der er überall suchte. Er hatte keine Angst vor ihren Stichen, sondern ergriff sie nudis manibus, mit bloßer Hand, entwaffnete sie von ihrem Stachel und saugte den Honig aus. Manchmal steckte er dutzende Bienen unter sein Hemd, manchmal verschloss er sie in Flaschen. Er war ein Merops apiaster oder Bienenfresser, sehr schädlich für Menschen, die Bienen hielten, denn er schlich sich in die Bienenhäuser, setzte sich vor die Stöcke, klopfte mit den Fingern an die Waben und holte sich die herauskrabbelnden Bienen. Um Honig zu bekommen, auf den er versessen war, stieß er sogar Bienenstöcke um. Wo man Met machte, war er bei den Kesseln und Bottichen und bettelte um einen Schluck Bienenwein, wie er es nannte. Wenn er herumlief, machte er mit den Lippen ein Geräusch, das sich wie das Summen von Bienen anhörte.

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