Literarischer Pseudo-Antirassismus

betr.: Rassismus bei H. P. Lovecraft

2017 überraschte der S. Fischer Verlag zuallererst sich selbst mit dem riesigen Erfolg, den die große kommentierte H. P. Lovecraft-Geschichtensammlung auf sich zog. Der etwas voreilige Titel des Prachtbandes „Das Werk“ konnte somit schon bald darauf tatsächlich eingelöst werden. Mit der zweiten, etwas schlankeren Ausgabe waren die Lovecraft-Erzählungen im Wesentlichen komplett. Der amerikanische Original-Herausgeber Leslie Klinger versauerte uns allerdings ein wenig das Vergnügen, indem er in deren Vorwort den angeblich wahnhaften Rassismus des Autors proklamieren und beklagen lässt; das Echo des ersten Bandes hatte auch diesen Aspekt wieder in die Debatte getragen. Beim Lesen dieser Seiten hat man das unbehagliche Gefühl, einer religiösen Predigt ausgesetzt zu sein – eine Zumutung wie sie Lovecraft selbst uns schon wegen seines parodistischen Sprachwitzes niemals antut. Wie fragwürdig es ist, seine Texte mit dem heutigen moralischen Hochmut zu lesen, mögen folgende Beispiele aus der Weltliteratur illustrieren, von denen sich noch zahllose andere finden lassen.

In „Robinson Crusoe“, dem Roman, der die englische Literatur begründete, lässt Daniel Defoe seinen Helden über die Moral der Kannibalen nachdenken, deren grausige Hinterlassenschaften (abgenagte Totenschädel) er auf seiner Insel entdeckt hat. „Ich begann, mit kühleren und gesetzteren Gedanken zu betrachten, mit welchem Fug und Recht ich mich zum Richter und Rächer über diese Männer aufwerfen und sie zu Verbrechern erklären dürfte, sie, die der Himmel doch so lange ungestraft ihre Handlungen vollbringen lassen und ihnen gleichsam erlaubt hatte, dass sie aneinander zum Vollstrecker seines Urteils würden. Manchmal stritt ich mit mir selber wie folgt: Wie kann ich wissen, wie Gott selber in diesem besonderen Fall urteilt? Sie wissen nicht, dass es Sünden sind, und begehen also auch nicht wie wir fast alle Sünden in Auflehnung gegen die göttliche Gerechtigkeit. Nachdem ich ein wenig darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Menschen nicht Mörder waren in dem Sinne, wie ich sie vorher in meinen Gedanken verurteilt hatte. So wenig jedenfalls wie jene Christen Mörder sind, die oft die in der Schlacht gemachten Gefangenen töten, ja noch öfter und bei vielen Gelegenheiten ganze Scharen von Menschen ohne Erbarmen über die Klinge springen lassen, auch wenn diese ihre Waffen schon weggeworfen und sich ergeben haben.“
Der Literaturkenner Hanjo Kesting stellte dazu fest: „Es sind ungewöhnliche Gedanken in einer Zeit, in der Großbritannien daranging, sein koloniales Imperium zu errichten. Shakespeare beschrieb die sogenannten ‚Wilden Völker‘, auf die man im Zuge der Entdeckungsreisen gestoßen war, am Beispiel seines Caliban in ‚Der Sturm‘ (‚The Tempest‘) noch als monströs und abscheulich. Defoe stellte sich eher auf die Seite von Montaigne, der den Hauptunterschied zwischen den sogenannten zivilisierten und den sogenannten wilden Völkern damit beschrieb, dass die einen Hosen tragen und die anderen nicht. Das heißt aber noch nicht (…), dass Defoe sie als gleichberechtigt ansah.“
„Nehmt auf euch des weißen Mannes Bürde!“ dichtete Rudyard Kipling 180 Jahre später auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus. „Wacht über eure frisch eingefangenen tückischen Völkerschaften, die noch halb Kinder sind, halb Teufel!“ Niemand käme auf die Idee, Kiplings Arbeiten – etwa das von Walt Disney paraphrasierte „Dschungelbuch“ – deshalb als das Werk eines Rassisten zu betrachten, das von den jugendlichen Zielgruppen fernzuhalten sei (jedenfalls noch nicht zum jetzigen Zeitpunkt) oder Shakespeare auf seinen zeittypischen Rassismus zu reduzieren. Und das ist auch gut so.

Noch einmal zurück zu Lovecraft. Sein Leser und Experte Marco Frenschkowski erinnert uns im BR daran: „Ohne Frage war Lovecraft ein Rassist. Allerdings nicht im Sinne der deutschen Geschichte. In seiner Jugend in Neuengland war nach unseren Kategorien ausnahmslos jeder ein Rassist.“

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