Langsamer Tod einer Zielgruppe

betr.: „Boomer TV“ nach der Definition des „Spiegel“ Nr. 18 / 30.4.2022

Eigentlich ist es nicht die Zielgruppe, sondern ihr Medium, das hier gerade stirbt. Und es ist kein natürlicher Tod, sondern eher ein Selbstmord. Zurzeit zündet das Fernsehen die dritte Stufe seines Selbstzerstörungsprogramms. Nach dem Weglassen der Spielfilme (Filme, die älter als 15 Jahre sind, wurden auf ein ständig rotierendes Minimum reduziert) und dem Überschwemmen der auf 24 Stunden verlängerten Sendezeit mit Billig-Formaten (Kleinbürger, die sich tagtäglich zunächst in Studiodekos, heute in Doku-Soaps gegenseitig anbrüllen, statt Profis, die einen Medienberuf ausüben) schließt sich nun der Kreis.

Die Formate der goldenen 90er Jahre, da das (frei empfangbare) Fernsehen das unangefochtene Leitmedium war werden wieder aufgelegt: die Shows der frühen Ära des Privatfernsehens.
Wer sie einschaltet, schaltet rasch wieder ab. Das belegen die durchweg enttäuschenden Quoten. Man muss aber gar nicht erst einschalten, um sich auszurechnen, dass die „werberelevante Zielgruppe“ aus dem Fokus der Programmgestalter herausgealtert ist. Anfang der 90er galt plötzlich die Devise: wer Werbeeinnahmen generieren will, dessen Programm muss zuerst den 14- bis 49jährigen gefallen. Niemand wusste, woher diese Weisheit kam, aber sie klang so dufte, dass allerseits nach ihrer Erfüllung gestrebt wurde. Jahre später hat Helmut Thoma, der Gründer des ersten deutschen Privatsenders RTL*, zugegeben, er habe diese Zahlen einfach erfunden und in die Welt gesetzt.
Das heutige Boomer-TV richtet sich exakt an die selben Leute, die damals in jene Altersgruppe fielen. Leider haben die inzwischen über 50jährigen undankbarerweise gar keine Lust mehr auf den alten Kram.
Das ist einleuchtend. Die sprudelnde süße Limonade, die mir mit 14 so gut geschmeckt hat, will ich heute auch nicht mehr trinken. Schon gar nicht, wenn die Flasche vom Jahrgang 1981 ist.

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* Was Thoma im Gegenzug vernichtet hat, erfahren Sie hier: https://blog.montyarnold.com/2022/04/19/frank-elstner/

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