Novel ist nicht gleich Novelle

Ähnlich wie das Wort „Chanson“, das im Französischen eine allgemeinere Bedeutung hat als im Deutschen, hat auch der Begriff „Novelle“ hat eine andere Bedeutung als die angelsächsische Entsprechung „Novel“ für „Erzählung“. Mir wurde im Deutschunterricht erklärt, eine Novelle sei eine nicht übermäßig lange Erzählung, bei der es kurz vor Schluss zu einer Wende kommt, die buchstäblich alles über den Haufen wirft (- die Neuigkeit, die in der Bezeichnung angelegt ist). Tatsächlich konnte ich diese Definition bei meinen literarischen Erlebnissen seither gut nachvollziehen.
Offiziell sei eine Novelle „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit nach Goethe, straff komponiert und dicht“. Als Schwester des Dramas wird sie auch bezeichnet, als Geschichte, die einen „Falken“ braucht.
Stephanie Ahrens in einem BR-Feature der Reihe „radioWissen“: „Als Goethe 1828 einer kurzen Erzählung den Namen ‘Novelle‘ gibt, knüpft er an eine literarische Tradition an, die von Giovanni Boccaccio mit seinem ‚Decameron‚, einem Zyklus von Geschichten, im 14. Jh. begründet wird. Boccaccio, der neben dem Spanier Cervantes (‚Exemplarische Novellen‘, 1613) als Vater der Novelle gilt, bettet seine Erzählungen in eine Rahmenhandlung ein: Edle Florentiner flüchten vor der Pest in ein Landhaus, wo sie einander Geschichten vortragen, um sich zu unterhalten und die Zeit zu vertreiben. Es sind anregende, überraschende und kurze Texte, die die eingeschlossene adlige Gesellschaft amüsieren und von der drohenden Pestgefahr ablenken. Das italienische novella für ‚kleine Neuigkeit‘ spiegelt die Vorstellung von der kurzen, hörens- und erzählenswerten Angelegenheit wider, die sich damit nicht für den langen epischen Text, den Roman eignet. Die Kürze bedient gleichzeitig eine im 14. Jh. neue Leserschaft: die der aufsteigenden Mittelschicht, wohlhabende, geschäftige Händler und Kaufleute.“   
Nach Goethe entdeckten im Laufe des 19. Jahrhundert immer mehr Schriftsteller diese kurze Prosaform für sich. Nachdem Anton Tschechow um die Jahrhundertwende eine Reihe von Beispielen vorgelegt hat, die bis heute als Klassiker gelten, waren es im 20. Jahrhundert vor allem US-amerikanische Schriftsteller, die sich als Meister und Vorbilder herausstellten: Popstars wie wie Ernest Hemingway und der längst verstorbene Edgar Allan Poe, ewige Geheimtipps wie John Cheever und Richard Matheson – die Verlängerung dieser kurzen, willkürlichen Liste ist ein Vergnügen, das man sich jederzeit bereiten kann: „Eine Novelle lässt sich sozusagen ‘zwischendrin‘ mal lesen.“ (Stephanie Ahrens).

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