Prima vista 0,5: Arthur Gordon Pym

betr.: Lesen vom Blatt / Übung

Eine Prima Vista Lesung in abgemilderter Form lässt sich durchführen, wenn man sich verschiedene Übersetzungen der selben Textpassage vornimmt: die erste wird still gelesen, die zweite laut.
Der Inhalt ist bekannt, der Wortlaut ändert sich.

Heutiges Beispiel: aus „Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“ von Edgar Allan Poe.

Variante 1 (Übersetzung von Hans Schmid, 2008):

21. März. Über uns hing jetzt eine unheilvolle Finsternis – doch aus den milchigen Tiefen des Ozeans stieg ein grelles Leuchten auf und stahl sich, am Schanzkleid des Bootes entlang, nach oben. Wir wurden fast begraben unter dem weißen, aschenartigen Regen, der dort, wo er auf uns und das Kanu fiel, liegen blieb, im Wasser aber zerschmolz, sowie er hineinfiel. Die Höhe des Kataraktes verlor sich zur Gänze im Zwielicht und in der Ferne. Und doch näherten wir uns ihm offensichtlich mit grässlicher Geschwindigkeit. In Abständen wurden breite, gähnende, aber nur vorübergehend sich öffnende Risse sichtbar, und aus diesen Rissen heraus, in denen es ein Chaos aus vorbeihuschenden und verschwommenen Bildern gab, kamen brausend und gewaltig, aber tonlos die Winde, zerrissen auf ihrem Weg den entflammten Ozean.

22. März. Die Dunkelheit hatte sich erheblich verstärkt, gemildert nur durch das grelle Leuchten des Wassers, das der weiße Vorhang vor uns zurückwarf. Viele gigantische und fahlig weiße Vögel kamen jetzt unaufhörlich von jenseits des Schleiers geflogen, und ihr Schrei war das ewige Tekeli-li!, mit dem sie wieder aus unserem Gesichtsfeld verschwanden. Hierauf regte sich Nu-Nu auf dem Boden des Bootes; aber als wir ihn berührten, stellten wir fest, dass er sein Leben ausgehaucht hatte. Und jetzt rasten wir hinein in die Umarmungen des Katarakts, dorthin, wo sich ein Spalt auftat, uns zu empfangen. Da aber erhob sich auf unserem Pfad eine verhüllte menschliche Gestalt, in ihren Ausmaßen viel viel größer als irgendjemand, der unter den Menschen wohnt. Und die Farbe der Haut und der Gestalt hatte die vollkommene Weiße des Schnees.

Variante 2 (Übersetzung von Gisela Etzel, 1965):

21. März. Nun hing ein mürrisches Dunkel über uns; aber aus den milchigen Tiefen des Ozeans hob sich glimmender Schein und stieg leuchtend an den Planken des Bootes hinauf. Der weiße Aschenregen lagerte sich erdrückend auf uns und begann das Kanu zu füllen, aber im Wasser zergingen seine Flocken. Der Gipfel des Kataraktes verschwand vollkommen im Dämmer der Höhe und Ferne. Doch näherten wir uns ihm offenbar mit grauenhafter Schnelligkeit. Zuweilen erblickte man in ihm weite, gähnende Risse, die sich jedoch augenblicklich wieder schlossen; und aus einer dieser Klüfte, in der sich ein Chaos flirrender und zerfließender Gestalten bewegte, strömte ein heftiger, aber geräuschloser Wind hervor, dessen mächtiger Atem den flammenden Ozean aufwühlte.

22. März. Die Finsternis war immer dichter geworden, und nur der Widerschein des Wassers auf dem weißen Riesenvorhang belebte flirrend die Meeresnacht. Viele ungeheure und gespenstisch bleiche Vögel flogen jetzt unablässig aus jenem Schleier hervor, und während sie sich unseren Blicken entzogen, schrillte noch ihr ewiges Tekeli-li! In unseren Ohren. Da rührte sich Nanu noch einmal auf dem Boden des Kanus; aber als wir ihn anfaßten, sahen wir, daß er den Geist aufgegeben hatte. Und jetzt rasten wir den Umarmungen des Wassersturzes entgegen, dorthin, wo sich eine Spalte auftat, um uns zu empfangen. Aber in diesem Augenblick erhob sich mitten in unserem Wege eine verhüllte, menschliche Gestalt, doch weit gewaltiger in allen Maßen als die Kinder der Erde. Und ihre Haut war von weißer Farbe, von der Farbe des leuchtendsten, blendendsten ewigen Schnees – –

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