Die wiedergefundene Textstelle: Der Fall Resniksen

Dieses Buch schrieb ich im Jahre 1941 in Oslo. Es ist keine Selbstbiographie und kein Schlüsselroman. Die darin geschilderten Personen und Ereignisse sind nicht Abbilder der Wirklichkeit, sondern frei erfunden.
Norweger brachten mich im Dezember 1942 nach Schweden in Sicherheit und retteten auch mein Manuskript.
Ich danke ihnen herzlich.

H.

Mit diesem koketten Vorwort zieht sich Thomas Theodor Heine ironisch aus der Affäre, ehe er unter dem Titel „Ich warte auf Wunder“ ein Sittengemälde der deutschen Zwischenkriegszeit vorlegt, das zu haarsträubend, zu komisch und gruselig ist (und der Gegenwart viel zu ähnlich), um tatsächlich erfunden zu sein.
Seine Dankbarkeit gegenüber den Norwegern zeigt sich, als er aus einem genialen Zeichner* dieser Herkunft, mit dem er in den Verlagsräumen des „Simplicissimus“ zu tun hatte, einen Isländer macht. 
Der folgende Text ist aus zwei Kapiteln zusammengesucht und beginnt mit einem Gespräch in der Redaktion des Sensationsblattes „Meteor“.

“Was mir fehlt, ist ein Zeichner mondäner Gesellschaft, eleganter Frauen. Haben Sie einen auf Lager, Herr Quartaller?“
“Ja, Bjarne Resniksen.“
“Ach, Unsinn! Den kenne ich doch, das ist der kleine Athlet aus Island. Er kam einmal auf unsere Kegelbahn der Einsamen, konnte kaum ein Wort Deutsch, dachte, er könnte es durch reichliche Aufnahme deutschen Bieres erlernen, sah aus wie ein besoffener Eskimo. Vierschrötig und natürlich alles andere als elegant.“
Daffodil mußte Resniksens Zeichnungen suchen, zog sie mit sicherem Griff aus dem Papierhaufen.
Ich war erstaunt. Das war gerade das, was ich suchte. Wie war es nur möglich, dass dieser halbwilde Naturbursche die raffinierte Eleganz zierlicher Damenschönheit, die Vornehmheit geschniegelter Herren, das glänzende Milieu exklusiver Kreise so nachfühlen und in wenigen, schön geschwungenen Linien wiedergeben konnte? Der Sinn für zarte Spitzenunterwäsche, die damals, Frou-Frou genannt, den Mittelpunkt weiblicher Verführungskunst bildete, war ihm gewiß nicht mit der nordischen Muttermilch eingeflößt worden. Ein Wunder mußte geschehen sein.
Ich fragte die allwissende Katja, ob sie mir die Sache erklären könnte. Sie belehrte mich: „Die Auflösung jedes Rätsels heißt Frau.“

Der erfolgreiche Berliner Lustspieldichter Waldemar Schlänglich brachte seinen begüterten Lebensabend in München zu. In seinem gastlichen Heim pflegte er eine vornehme Geselligkeit. Alles in der Stadt, was Intellekt, Eleganz oder sonst eine Vorzüglichkeit besaß, drängte sich zu seinen literarischen Tees, die, da er Witwer war, von seiner schönen Tochter Isolde in Szene gesetzt wurden. Ausländer waren besonders gern dort gesehen, man konnte immer die neuesten Pariser Damenmoden bewundern und die neuesten Weltanschauungen. Niemand weiß, wie es kam, dass in dieser verfeinerten Atmosphäre auf einmal Bjarne Resniksen auftauchte wie eine urweltliche Erscheinung. Irgendjemand hatte ihn in einen Smoking gesteckt, der ihm zu eng war, aus den zu kurzen Ärmeln hingen riesige Hände heraus. – Er lachte breit und stieß unartikulierte, primitive Laute aus. – Erst als man hörte, dass er aus Island komme, begegnete man ihm mit Duldung und Interesse. Ein berühmter englisch-irischer Dichter, auf der Durchreise Zierde des Salons, fragte ihn in seiner geistreichen Art, ob er der Ober-Analphabet von Island sei. Resniksen hatte die Frage nicht verstanden, aber er stimmte laut in das allgemeine diskrete Lachen ein, bog des Dichters Kopf zu sich herab und küßte ihn. „Du er söt“, sagte er, dann faßte er ihn an den Armen und hob den ganzen Dichter ohne Anstrengung hoch, stellte ihn sanft wieder auf den Boden, dabei geriet die dichterische Unterhose in Unordnung, ein weißes Band rutschte über den Schuh hinunter, zugleich mit den Falten des Strumpfes.  Man lachte wieder. Leider fiel dem englischen Dichter nicht gleich der richtige Aphorismus ein, und er empfahl sich bald.

Dieser Sieg der Muskeln über den Geist hatte hier den Reiz des Ungewohnten, besonders für die Damen. Isolde war stark bewegt. Sie witterte unverbrauchte Kraft unter dem linkisch-frohen Äußeren.

„Ich warte auf Wunder“ von Th. Th. Heine enthält mehr Geschichten, als eine Jahresproduktion des deutschen Fernsehspiels und mehr Bosheit als das lyrische Werk von Jan Böhmermann. Es wurde im vorigen Jahr dankenswerterweise vom Fischer Verlag als Taschenbuch neu aufgelegt.

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* Da dieser Zeichner – die späte Entdeckung seiner Arbeit verschlug mir buchstäblich die Sprache – außerdem und ebenfalls ein großer Erzähler war, ist er in dieser Rubrik bereits gewürdigt worden.

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