Eskapismus für Genießer: Was ist CAMP?

betr.: Fachbegriffe / Synergien in der Popkultur: Vier kleine Worte (3)

Dieser heute endende vierteilige Artikel beruht auf meinem Unterricht Musicalgeschichte bzw. Mediengeschichte. Die Kapitel: 1. Kult – 2. Trash – 3. Camp – 4. Pulp

CAMP

Der Begriff bezeichnet eine bestimmte Attitüde im Dialog zwischen Künstler und Publikum: Camp ist Übertreibung bis an die Grenze des Kitsches, ist (oder tut) unfreiwillig komisch – ist aber nicht unangenehm sondern im Gegenteil geradezu beglückend. „Dabei geht es nicht um Schönheit sondern um den Grad der Künstlichkeit, der Stilisierung (…). Camp in Personen oder Dingen wahrzunehmen heißt, die Existenz als das Spielen einer Rolle zu begreifen“, lautet die berühmte Definition von Susan Sontag, 1964.*
Zunächst hat sich der Ausdruck bei den Medienschaffenden etabliert, dann bei den Freunden des Musicals. Dieses Genre wird von dessen Außenstehenden generell als „campy“ empfunden, ohne es so zu formulieren – dort fiel dann lange Zeit eher das Wort „schwul“.
So wenig sich der Grenzverlauf zum Kitsch hundertprozentig festlegen lässt, so sehr ist Einordnungssache, was eigentlich „campy“ ist. Auch der historische Moment spielt eine Rolle – der sich wandelnde Humor, der „test of time“.** Ein Film wird zum Beispiel dem Camp zugerechnet, wenn er – einst mit großem Ernst gedreht – uns heute lächerlich erscheint oder sich schwul umdeuten lässt: die Strumpfhosen von Robin Hood und seinen Recken oder die Titten, die in Sandalenfilmen bei den Männern dicker sind als bei den Frauen.

Die erwähnte Nischengemeinde geht mit dem Ausdruck differenzierter um. Ein Musical-Kenner empfindet „Wicked“ oder „König der Löwen“ wegen ihrer präzisen, gleichsam athletischen Professionalität sicher nicht als campy, eher schon eine Schlagerklamotte mit Roy Black. Würde hier nicht die oft beklagte Grenze zwischen „E“ und „U“ verlaufen, würde sicher auch die Oper dem Camp zugerechnet.

In zahlreichen Filmen, Serien und sonstigen Medienprodukten wird „The Sound Of Music“ als Inbegriff des Musicals wie auch des Camp gefeiert: Julie Andrews in der Eröffnungsszene als singende Nonne, die mit ausgebreiteten Armen vor dem Alpenpanorama herumspringt – darauf können sich alle einigen.

Ein paar besonders anschauliche Beispiele aus der Filmkunst:

  • In dem Film „Die Regenschirme von Cherbourg“ aus dem Jahre 1963 wird die Geschichte eines jungen Paares erzählt, das sich verabschieden muß, da der Junge in den Algerienkrieg zieht. Die damals übliche Agfacolor-Optik wird noch durch die quietschbunt gestrichenen Wände unterstützt, durch den im Glas schimmernden Pernod, der unaufdringlich mit dem güldenen Haar der jungen Catherine Deneuve korrespondiert. Alles, auch die kleinste Banalität des Dialogs, ist gesungen. Michel Legrand hat das ganze Werk durchkomponiert – zwei große Themen sind es, die immer wieder herausklingen. Im Gegenzug ist das Spiel der Darsteller betont natürlich – so natürlich das in einer hochdramatischen Romanze eben geht. Dreht man den Ton weg, fällt das Gesinge praktisch gar nicht auf. Und dann das Ende, das hier natürlich nicht en detail verraten werden soll! Nur soviel: es ist vollkommen unkitschig und hat enorm viel mit dem Leben zu tun.

  • The 5,000 Fingers Of Dr. T“ ist ein US-Filmmusical des deutschen Kabarett- und Chanson-Autors und -Komponisten Friedrich Hollaender. Der mittlerweile durch Filme wie „Horton hört ein Hu“ und „Der Grinch“ auch hierzulande bekannt gewordene US-Kinderbuch-Autor Dr. Seuss hat sich diese haarsträubende Geschichte ausgedacht: Ein tuntig angelegter, sadistischer Klavierlehrer – jener Dr. Terwilliker, nach dem der Schurke Side-Show-Bob in der Serie „Die Simpsons“ benannt ist – hat 500 seiner kleinen Schüler entführt. Er schaffte sie in sein düsteres Reich, wo sie nun das 5000-Finger-Konzert einzustudieren haben, welches das krönende Werk im Schaffen des Doktors werden soll. Unterbrochen wird diese Groteske von typischen Musical-Balladen und Novelty-Acts, aus denen einer besonders heraussticht: Dr. T. hat nicht nur Jungs entführt sondern auch Musiklehrer, die „minderwertige“ Instrumente unterrichten, also alles außer Klavier. Diese sind im „Non-piano players dungeon“ interniert, wo sie sich nun die fehlenden Instrumente nachbauen und ein Konzert aufführen, das auf verblüffende Weise die „Muppet Show“ vorwegnimmt.

  • Ja zuster, nee zuster“ war die 2002 unternommene Hommage niederländischer Fans an eine alte TV-Serie, deren Bänder inzwischen vom Sender gelöscht worden waren – ein Schicksal, das auch viele deutsche Fernseh- und Radioklassiker ereilt hat. Das Ergebnis ein umwerfend komischer und nur auf den ersten Blick vollständig alberner Film. Es geht um eine WG, die von der titelgebenden Schwester Clivia als eine Art Wohnheim für schräge Vögel geleitet wird. Der bitterböse Nachbar Boordevol versucht diese Lebensgemeinschaft zu zerstören. Das gelingt ihm zwar, aber es ist noch nicht das Ende der Geschichte.

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* Susan Sontag in ihrem Essay „Anmerkungen zu Camp“ in „Kunst und Antikunst“ (Fischer-Verlag, München 1980). Dem Camp-Begriff wird außerdem in dem Buch „Glitter And Be Gay“ (Männerschwarm Verlag, Hamburg 2007) in einem von Christoph Dompke verfassten eigenen Kapitel auf den Grund gegangen.
** Wie campy ein Musical ist, in dem wohlgenährte Stammkunden der Kosmetik-, Wellness- und Fitness-Branche mit todernster Grimmigkeit auf einer Barrikaden-Deko herumturnen, die im Paris des 19. Jahrhunderts stehen möchte, wird man frühestens in 15 Jahren präzise einordnen können.

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