“Stiche“
Text und Zeichnungen: David Small
“Stitches: a memoir –“ erschien 2009 bei W. W. Norton & Company Inc. und 2012 im Carlsen Verlag, übersetzt von Barbara König.
Marcel Reich-Ranicki hat oft davor gewarnt, einen beschränkten Helden ins Zentrum der Erzählung zu stellen. Unlängst sah ich Håkan Nesser mit „Elf Tage in Berlin“ an der Missachtung dieser Regel scheitern.
Kinder haben als Protagonisten – jenseits der Jugendliteratur – ein ähnliches Handicap. Der halbwüchsige Ich-Erzähler in „Stiche“ (unbedingt ein „Comic für Erwachsene“) setzt seine Beschränkungen allerdings in Vorzüge um, wenn er zum Beispiel mit dem Umstand spielt, wie schwer Fantasie und Wirklichkeit für Kinder zu trennen sind.
In einer Sequenz, die völlig ohne Worte auskommt, stromert der Held durch ein nächtliches Krankenhaus, den Arbeitsplatz seines Vaters. Er bestaunt einen Fötus, der in einer Flasche konserviert ist und in seiner gekrümmten Körperhaltung wie eine gepeinigte Kreatur aussieht. Als der Junge das seltsam vollständig wirkende winzige Gesicht studiert, schlägt das kleine Ungetüm plötzlich die Augen auf. Der Junge bekommt einen Riesenschreck und ergreift die Flucht, doch der Fötus klettert aus dem Glas und nimmt die Verfolgung auf. Nur durch die verbotene Nutzung des Fahrstuhls entkommt unser Held.
Das Unheil nimmt in „Stiche“ im frühen Atomzeitalter seinen Anfang: „Die unheilvolle Wirkung von radioaktiver Strahlung – noch zwanzig Jahre zuvor als Wundermittel in allen möglichen Werbeanzeigen gepriesen – wurde allmählich publik, und in einer verblüffenden Zurschaustellung von Augenwischerei schützte man sich bei Alarmübungen des Zivilschutzes mit Alufolie, über den Kopf gehaltenen Aktentaschen und Sonnenbrillen. Der Kalte Krieg hatte begonnen.“ (Heiko Langhans).
Für den Helden unserer Geschichte kommt diese Ahnung zu spät. Er wird von seinen grundanständigen, unbescholtenen Eltern seelisch und körperlich beinahe vernichtet. Dennoch ist David Smalls Strich frei von der entstellenden Bitterkeit eines Daniel Goossens (den ich gleichwohl bewundere) oder dem selbstmitleidigen Weltekel eines Chris Ware (dessen Ruhm mir ein einziges Rätsel ist). Er wirkt roh, wie hingeworfen, und doch entgeht ihm kein räumliches Detail, keine mimische Regung.
Ein seltener Moment der Gegenwehr: Mutter macht einen Krankenbesuch. (Aus dem besprochenen Band)
Hin und wieder bricht Small aus diesem planvollen Understatement aus. Während der Junge eine lange Autofahrt zu seiner Großmutter erlebt, erzählt er uns die Lebensgeschichte der alten Dame. Auf dieser Reise in die Vergangenheit ändert sich auch der Zeichenstil, der mich nun an Wilhelm Busch denken ließ.
All diese Miniaturen – Alltagssituationen, Träume, Rückblenden, Parabeln, literarische Parodien, Milieustudien, Naturbeobachtungen und historische Sequenzen – fügen sich zu einer Erzählung zusammen, anstatt – wie so oft in unseren Tagen – den gründlich verwerteten Zettelkasten aufleben zu lassen, aus dem sie entstanden sind.