“Franquin“ – Ein Luxus-Fragment

“Franquin – Meister des Humors“ (Carlsen Verlag 2017) ist ein verschwenderischer Prachtband, die hochwillkommene Würdigung eines der einflussreichsten frankobelgischen Comic-Künstler überhaupt – und doch ein Torso. Während der Torso in der bildenden Kunst durchaus ein vollständiges Werk darstellen kann, wirkt „Franquin“ bei aller Ausführlichkeit wie der Mittelteil eines dickeren Buches.

André Franquin – Zweiter Akt
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Zunächst einmal hat die von José-Louis Bocquet und Eric Verhoest gewählte chronologische Struktur einiges für sich, die sich an der Präsentation der von André Franquin geschaffenen bzw. mitgestalteten Alben orientiert. Zu jedem Band wird eine solche Fülle von Abbildungen, Zitaten und Anekdoten geliefert, dass für die hochproduktiven 30 Jahre von 1951 bis 1981 der Eindruck einer umfassenden Künstlerbiographie entsteht (wiewohl der Untertitel lediglich von einer Werkschau spricht). Diese setzt die Kenntnis von Franquins Vorgeschichte voraus, als dieser 1946 mit einigen anderen späteren Comic-Legenden im Verlag von Charles Dupuis zusammentrifft. Ebensowenig wird uns vom Charakter „Spirou“ verraten, dessen Serie und Gestaltung Franquin übernehmen und den er zum Klassiker weiterentwickeln wird.
„Die Geburt von Spirou“ erschien bereits am 21. April 1938 im neu gegründeten belgischen Comic-Magazin „Le journal de Spirou – Pour la jeunesse“. Der Protagonist ist zunächst tatsächlich jener Hotelpage, dessen Arbeitskleidung er bis heute trägt. Sein Schöpfer Rob-Vel (Robert Velter, der im besprochenen Band unerwähnt bleibt) hat ihn als pausbackigen Lausbuben angelegt, dessen Abenteuerlust deutlich auf amerikanische Sonntagsseiten-Strips verweist. Er sorgt zunächst für Chaos an seinem überschaubaren Arbeitsplatz, dem Hotel Moustique (dt.: Hotel Mücke), darf sich aber bald auf seine erste Weltreise begeben, von der er nicht wieder zur Schicht zurückkehren wird. Der seinerzeit tobende Zweite Weltkrieg ficht den Helden nicht an, er ist ein typischer Mann (bzw. Knabe) ohne Eigenschaften, eine Projektionsfläche für den jugendlichen Leser. Es ist kein Geheimnis, dass Franquin später mit dieser Konturlosigkeit der ihm übergebenen Figur gehadert hat (siehe unten). Die heute unbehaglichen Plattitüden in der Darstellung von Juden und Afrikanern in den frühen „Spirou“-Abenteuern sind aus der Zeit heraus zu verstehen und bekanntlich auch bei Hergé zu finden. (Sie werden in einer aktuellen Spezial-Serie nachträglich eingerenkt: wechselnde Zeichner-Autoren-Teams lassen den jugendlichen Spirou z.B. gegen die Nazis kämpfen.)
Auch mit Tieren geht Spirou nicht sehr rücksichtsvoll um, bis ihm das Eichhörnchen Pips zugesellt wird, dessen Gedanken der Held nicht hören, der Leser aber mitverfolgen kann. Langsam lässt Spirou seine Flegeljahre hinter sich, und der anfangs noch Zigarre rauchende Hedonist rappelt sich zum regelmäßigen Retter in der Not auf. Der inzwischen mit der Serie betraute Jijé (Josegh Gillain, ein herausragender Kopf in der Biographie Franquins wie auch in der Geschichte des Comics) komplettiert schließlich das Trio, das die Fans bis heute lieben, mit dem leicht erregbaren Reporter Fantasio. Da sowohl Pips als auch Fantasio zur Übellaunigkeit neigen, kann sich Spirou nun restlos untadelig gebärden.
Mit André Franquins Übernahme der Serie „Spirou et Fantasio“ setzt die prächtige Materialschlacht des Carlsen-Bandes ein. Sie lässt scheinbar keine Fragen offen – bis zum berühmt-berüchtigten Band „QRN ruft Bretzelburg“.

Hinter der Mauern von Bretzelburg

Die Hintergründe der Entstehung des 18. Abenteuers von „Spirou und Fantasio“, das 1966 als Album erschien, sind ähnlich verschlungen wie das darin Geschilderte. Bereits im Mai 1961 begann das „Spirou-Magazin“ mit der Geschichte „QRN sur Bretzelburg“. Franquin fremdelte zunehmend mit dieser Reihe – mit ihrem Personal ebenso wie mit der Anforderung langer Geschichten. Nun kam noch ein Problem hinzu, das unter seinen Verehrern längst ein offenes Geheimnis ist: Franquin litt unter depressiven Schüben. Diesmal waren sie erstmals so heftig, dass er die Arbeit am aktuellen Projekt unterbrechen musste – und damit die bereits begonnene Fortsetzungsgeschichte. Die kleinteiligen Abenteuer von „Gaston“ lieferte er dem Magazin weiterhin. So ließ sich die Lage gegenüber den Lesern relativieren. In der deutschen QRN-Album-Ausgabe (Carlsen Verlag 2003) heißt es, das Werk bereitete „Franquin besondere Schwierigkeiten. Nach den beiden von Greg getexteten ‚Zyklotrop‘-Abenteuern sollte er dieses Abenteuer wieder selbst schreiben. Doch bereits nach acht Seiten musste er Greg um Hilfe bitten. (…) Trotz Gregs textlichem Beistand wuchs sich Franquins innere Abneigung gegen die Zwänge, die ihm die Weiterführung der albenlangen Abenteuer auferlegte, zu einer psychischen Blockade aus. Sein Körper reagierte mit einem Kollaps und gesundheitlichen Problemen, die ihn schließlich daran hinderten (…) weiterzuzeichnen.“

QRN ruft Bretzelburg_FFExtra1Seite1-2Die ersten Bilder aus „QRN ruft Bretzelburg“ konnten deutsche Leser 1969 im „Fix und Foxi Extra“-Taschenbuch Nr.1 lesen, wiederum als ankündigendes Bruchstück. Der Titel entspricht bereits der heutigen Übersetzung bzw. Beibehaltung, die Helden heißen bei Kauka noch „Pit und Pikkolo“, das Marsupilami wird „Kokomiko“ gerufen. Nur Pips bleibt immer Pips.

Nach anderthalb Jahren Pause brachte Franquin „QRN ruft Bretzelburg“ zuende, und die Serie wurde im Magazin fortgeführt. Franquins Erklärung wird im besprochenen Band so wiedergegeben und erläutert: „‘Alles fing damit an, dass ich das Gartenhaus neu streichen wollte, und dabei habe ich ein Mittel gegen Holzschädlinge verwendet. Anscheinend sollte man das aber nicht einatmen, sondern nur in gut belüfteten Räumen oder im Freien verwenden.‘ Mit der Virushepatitis, die sich der Zeichner daraufhin zuzog, sollte er monatelang zu tun haben, aber schon nach kurzer Zeit kamen ernstliche Zweifel an seiner beruflichen Zukunft hinzu. Das System, dessen Bestandteil er war, begann ihn zu ersticken.“

Gute Zeiten für Horrorwesen

Den grundguten, aber chaotischen Büroboten „Gaston“ hatte Franquin selbst geschaffen, und er gilt heute als ein Höhepunkt des europäischen Comics überhaupt. Er war sein Herzensprojekt und erlaubte präzise Einblicke in seine Seele und seine politischen Ansichten. Als die Serie „nach einem Vierteljahrhundert ununterbrochener Laufzeit 1982 erstmals nicht mehr auf den Seiten des (…) ‚Spirou‘ zu finden war, wussten die Leser André Franquins, dass dem Zeichner etwas zugestoßen sein musste“ folgert Andreas Platthaus im Band 18 der F.A.Z.-Buchreihe „Klassiker der Comic-Literatur“. Die Leser von “Franquin – Meister des Humors“ müssen sich ihren eigenen Reim auf die immer größer werdenden Abstände zwischen den besprochenen Alben ab 1982 machen. Der von Herzen kommende böse Witz des Künstlers, der schon die „Spirou“-Abenteuer und „Gaston“ gewürzt hatte, tritt deutlicher zutage. Zuletzt mehren sich die Zeichen, dass sich Franquins Gemüt ernstlich verdustert haben könnte: seine grandios-boshafte Serie „Schwarze Gedanken“ etwa oder sein wachsender Antrieb, „l‘art pour l’art“ kleine Monster zu erfinden.

“Franquin – Meister des Humors“ endet biografisch unvermittelt mit der Behandlung des posthumen „Gaston“-Bandes Nr. 19, der aus Fundstücken und unvollendeten Zeichnungen besteht. Es bleibt die tröstliche Atmosphäre eines Werkes erhalten, an dem bis zu allerletzt gearbeitet wurde.
Dass hinter großer Komik beinahe zwangsläufig ein leidvoller Blick auf die irdische Existenz steckt, ist eine Binsenweisheit. Für einen der ganz großen Humoristen darf sie sich offensichtlich nicht gehören: André Franquin.

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