Die wiedergefundene Textstelle: „Wunder der Kindheit“

betr.: 151. Geburtstag von Th. Th. Heine /  Genderfragen im Kaiserreich

Mit dieser Passage beginnt das Buch „Ich warte auf Wunder“ von Th. Th. Heine. Sie beginnt im Jahre 1867 in Leipzig.

Das Mädchen fuhr mich im Kinderwagen in den Park. Dort waren noch viele andere Mädchen mit Kinderwagen. Sie setzten sich auf eine Wiese, denn sie hatten sich viel zu erzählen. Die Wagen standen abseits in einer Reihe. Meiner war der schönste, denn er war himmelblau.
Plötzlich geschah etwas Schreckliches. Die Mädchen sprangen auf, kreischten, ein Mann mit gezücktem Säbel kam brüllend auf die zu. Sie wollten mit den Kinderwagen fortlaufen. Die fielen um, wir Kinder purzelten mit unseren Kissen heraus, schrien fürchterlich, wurden schnell wieder in die Wagen gestopft und weggefahren. Der Mann mit dem Säbel, immer schimpfend, hinterher. Ich bemerkte, daß mein Wagen jetzt rosafarben war und daß ich jetzt ein Kissen ohne Spitzenbesatz hatte.

Erst viel später habe ich erfahren, was da passiert war: das Betreten der Wiesen ist in meiner Heimat streng verboten. Ein Polizist hatte die Mädchen verjagt. In der Eile waren die Kinderwagen umgestürzt, alle Kinder durcheinandergekommen und viele waren verwechselt worden. Die Mädchen haben ihren Herrschaften nichts davon erzählt. Diese waren meistens wohlhabende Leute, die ihre Kinder ganz den Dienstboten überließen. Und wir waren noch so klein, daß der Austausch nicht entdeckt wurde. Meinen schönen himmelblauen Wagen und mein Spitzenkissen habe ich nie wiedergesehen. Am meisten wunderte mich, daß mein Papa jetzt einen blonden Bart hatte, vorher war er schwarz gewesen.

Und dann hätte ich beinahe ein Wunder erlebt. Aber das hat man mir auch erst nach vielen Jahren erzählt. Beim Baden kam einmal die Mama dazu und rief sehr erstaunt: „Aber unsere Emma ist jetzt ja ein Junge geworden!“ Und dann wurde der Doktor geholt, und er sagte, daß es ein ganz seltener Fall von Geschlechterumwandlung sei, den man aber merkwürdiger Weise seit einiger Zeit in unserer Stadt mehrere Male beobachtet habe. Er hat dann eine größere wissenschaftliche Arbeit über die Sache geschrieben. Die machte ihn sehr berühmt, und er ist als Professor nach Wien berufen worden. Und ich bin auf diese Weise zu dem seltenen Vornamen Emmaus gekommen.

Man rief mich Maus, was mir gar nicht gefiel. Einmal war eine wirkliche Maus in die Falle gegangen, Mama zeigte sie mir und sagte: „Sie heißt ebenso wie du.“ Da bekam ich einen Wutanfall und biß Mama in den Arm, daß es blutete. Sofort wurde ein Familienrat über die Untat abgehalten, zu dem auch Vetter Eberhard, der Staatsanwalt erschien. Auf seinen Rat machte mir ein Klempnermeister einen Kindermaulkorb aus Draht. Den mußte ich immer tragen. Erst als ich nichts mehr sprechen wollte, auf alle Fragen nur mit „Wauwau“ antwortete, dufte ich ihn ablegen. Allerdings, sonntags, wenn Vetter Eberhard zu Besuch kam, mußte ich den Beißkorb noch anziehen, um den Staatsanwalt nicht zu kränken. So an Kaisers Geburtstag. Der wurde bei uns immer durch ein kleines Festessen gefeiert. Zum Dessert gab es eine Germania aus schwarzweißrotem Eis. Und ich saß dabei und hatte den Maulkorb an. Seitdem sind mir Germania und Maulkorb unzertrennliche Begriffe geblieben.

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Der köstliche autobiografische Schelmenroman „Ich warte auf Wunder“ von Thomas Theodor Heine (+ 2.1.1948) ist nunmehr gemeinfrei. Zuletzt erschien er bei Fischer – für alle, die ihn vollständig lesen möchten.

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