Ein Schrecken ohne Ende

betr.: 105. Geburtstag der französischen Filmindustrie und von „Fantômas“ als Filmstar

Die 1910er Jahre, der letzte Abschnitt der Belle Époque, der Vorabend des Ersten Weltkriegs, war eine elegante und erfindungsreiche Zeit, die stets als „fiebrig“ bezeichnet wird, wenn von ihr die Rede ist. Dieses Lebensgefühl fasste eine 1911 erschaffene literarische Figur zusammen, die bald darauf auch die Leinwand eroberte: „Fantômas“. Er war ein Verkleidungskünstler von nie dagewesener Ruchlosigkeit, der aus purer Menschenverachtung raubte und mordete – nicht etwa aus Geldgier. Er passte noch aus einem anderen Grund so fabelhaft in seine Zeit: die Menschen waren verrückt nach Groschenromanen, seit findige Verleger auf die Idee gekommen waren, den Fortsetzungsromanen, die bisher nur in der Tages- und Wochenpresse erschienen waren, eigene Publikationen zu widmen. (In den USA geschah das auch, wo sie den mittlerweile international gebräuchlichen Namen Pulp Fiction trugen.*) Der hier maßgebliche Verleger Arthème Fayard gab bei dem erfolglosen Journalisten Pierre Souvestre und seinem zehn Jahre jüngeren Assistenten Marcel Allain einen Horror-Reihenkrimi in Auftrag.
Die beiden hatten schon ein Abenteuer fertig, aber noch keinen Titel, als sie sich zu Fayard aufmachten. Marcel Allain erzählt:

Wir haben überlegt, Pierre hatte ein paar Ideen, ich auch. Jedenfalls kam der Tag, an dem wir in der Metro entschieden, zu Fayard zu gehen und ihm ein paar Titel vorzuschlagen. Da kam mir eine Idee: „Souvestre, was hältst du davon, wenn wir das Ganze ‚Fantomus‘ [sprich: Fongtomühs] nennen? – „‘Fantomus‘ ist nicht schlecht.“
Pierre nahm sein Heft und schrieb in Großbuchstaben: „Fantomus“. Er schaute es sich von links und rechts an und neigte dabei den Kopf. – „Ja, nicht schlecht!“
Ein paar Minuten später fragte Fayard: „Und? Ihr Titel?“ – „Nun ja, Monsieur, was sagen Sie dazu?“
Und Pierre schlug sein Heft auf. Fayard zögerte einen Augenblick und las dann: „Fantomas! Sehr gut!“
„Fantomas“ war auf den Markt gebracht. Der Druck für den ersten Band lief ohne Unterlass. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Druckauflage die Million überschritt. Wir mussten also unsere Arbeit organisieren, um schnell voranzukommen. Wir hatten ein ziemlich bequemes Verfahren gefunden, das ich übrigens noch immer nutze: das Diktiergerät. Das war natürlich vor dem Tonbandgerät. Man diktierte auf eine Wachsrolle wie diese hier.

Blog_FantomasSeine prähistorische Diktiermaschine hat Marcel Allain (hier im Jahre 1966) stets in Ehren gehalten. Auch im Film noir „Frau ohne Gewissen“ (1944) ist dieses Modell eine wichtige Mitspielerin.

Eine Rolle ergibt – wenn man sie durchgehend bespricht – ungefähr 16 Seiten. Demnach war es sehr einfach, in kurzer Zeit einen Band ohne Stenotypistin aufzunehmen. Es reichte, die Rollen am Abend zu zwei, drei, vier, fünf Stenotypistinnen zu bringen, die gleichzeitig tippten, und am nächsten Morgen hatte man problemlos zweihundert maschinengeschriebene Seiten.

Auf diese Weise entstanden in zweieinhalb Jahren 32 Romane in monatlicher Folge. Obwohl bei diesem Tempo keine wirkliche Literatur entstehen konnte, wurden die Ergebnisse dafür gelobt, das Flair der damaligen Epoche, die Pariser Stadtlandschaft und die Stimmung eines drohenden gesellschaftlichen Vulkanausbruchs stimmig eingefangen zu haben.
Louis Feuillade inszenierte ab Anfang 1913 eine fünfteilige „Fantômas“-Filmreihe. Sie war so beliebt, dass sie heute als Gründungsereignis der französischen Filmindustrie betrachtet wird, und hievte ihren Protagonisten in den Kanon unserer Popkultur.
1950 kam „Fantômas“ kurzzeitig aus der Mode, als der Schriftsteller André Breton die „faschistische Faszination“ des Konzeptes an den Haaren herbeizog. Mitte der 60er Jahre kehrte der Superschurke in einer unverdächtig-heiteren Film-Trilogie wieder zurück, in der Louis de Funès den chancenlosen Inspektor Juve verkörperte. Damit landete „Fantômas“ in den Herzen einer neuen Generation (und den Kinderzimmern einer weiteren). Außerdem bekam er ein cooles Design für die Ewigkeit: das mit blaugrünem Gummi überzogene Gesicht von Jean Marais.
Marcel Allein wurde alt genug, dieses Comeback noch mitzuerleben. Sein Kollege Souvestre war schon 1914 einer Lungenentzündung erlegen.

_____________
* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2014/10/01/hollywood-noch-zu-retten/https://blog.montyarnold.com/2014/09/29/ueberflieger-von-ganz-unten-was-ist-pulp/ und https://blog.montyarnold.com/2018/03/15/aus-der-finsternis/

Dieser Beitrag wurde unter Fernsehen, Film, Krimi, Literatur, Medienkunde, Popkultur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Ein Schrecken ohne Ende

  1. Pingback: Ein A für ein U - Monty Arnold blogt.Monty Arnold blogt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert