zum Tode von Stan Lee
Ich meine das ganz ernst: ohne meine frühe Begegnung mit den Medien, ohne Eskapismus hätte ich meine Kindheit nicht überstanden. Und selbst wenn – mein weiteres Leben wäre niemals so erfüllt und glücklich verlaufen. Das damalige Kinderfernsehen (vor allem das Vorabendprogramm des ZDF), das deutsche Programm von Radio Luxemburg (in der Zeit, bevor ein gewaltiger Hulk namens Helmut Thoma es von einem Tag auf den anderen zu Klumpen schlug) und ein Stapel Superheldencomics, die mir mein großer Bruder überließ, waren es, die meine Verzweiflung in Melancholie umschlagen ließen und meine Alpträume in großes Kopfkino. Mit Stan Lee ist nun der Urheber jenes magischen Heftchenstapels von uns allen gegangen, nach biblischen 95 Jahren, die ihn immer erfolgreicher und als Person populärer werden ließen. Anlässlich seines letzten, kürzlich begangenen Geburtstages bekannte er, so ziemlich der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Es freute mich, das zu hören.
Mein erstes richtiges Superhelden-Comic und gleich ein zweiteiliges Sequel: die Rückkehr der Echse!
Auf dem erwähnten Stapel zuoberst lag die Nr. 45 der „Spinne“, wie „Spider-Man“ damals hieß. Unwissend, wie komplex die inhaltlichen Verflechtungen all dieser Heftchen sind (wie auch derer, die ich mir nun auf Flohmärkten zusammenkaufen würde), sortierte ich sie nicht und dachte, es sei ja egal, welches ich als erstes läse. Und so las ich gleich diese Nr. 45. Das war trotz des ungeschickten narrativen Einstiegs eine gute Wahl, denn die Qualitäten des Marvel-Zeitalters standen dort bereits in voller Blüte: die Hauptgeschichte war von John Romita gezeichnet, das halbe „Aquarius“ -Abenteuer im hinteren Teil von John Buscema – sie wurden auf Anhieb zu zwei meiner persönlichen Favoriten der Zeichenkunst und sind es geblieben. Die humanistisch-schnodderigen Übersetzungen von Hartmut Huff fachten meinen durch „Väter der Klamotte“ erregten Entschluss weiter an, mich in meinem späteren Berufsleben mit Sprache zu beschäftigen. (Nicht auszudenken, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich auf meine Mutter gehört und lieber Karl May gelesen!)
Von Stan Lees Tod erfuhr ich vorhin – ganz klassisch – aus dem Radio. In keinem der ersten Nachrufe fehlte der pflichtschuldige Hinweis, Lee habe die Bedeutung seiner Zeichner nicht angemessen gewürdigt. Das ist Blödsinn. Es mag sein, dass die beiden ersten und wichtigsten von ihnen – Jack Kirby und Steve Ditko – sich nicht immer angemessen bezahlt gefühlt haben (was auch nicht schön ist), aber aus den Namen, Funktionen und Verdiensten seiner Zeichner hat Stan Lee gegenüber seiner Leserschaft nie ein Geheimnis gemacht, ganz im Gegenteil. Er prahlte mit ihnen. Sie waren das Zentrum seiner fanfarenhaften Openings, ihre Ankündigung begründete eine ganz neue Spitznamenkultur.* Jack Kirbys Ruhm begann mit den Marvels und ging in Nachruhm über, als er das „Haus der Ideen“ zum zweiten und letzten Mal verließ. Der kürzlich ebenfalls verstorbene Steve Ditko, das stilistische Gegengewicht zum pompös-kraftstrotzenden Kirby und der Miterfinder von „Spider-Man“, wird heute ausschließlich für die Arbeiten gefeiert, die er für und mit Stan Lee geschaffen hat. Wer das nicht einzuordnen weiß, der sei an das Schicksal von Disneys Comic-Künstlern erinnert, deren Namen jahrzehntelang ein Geheimnis waren und erst offiziell genannt werden, seit die Fans sie ohnehin selbst recherchiert haben.** Außerdem hat Stan Lee weitaus mehr Charaktere erfunden bzw. miterfunden als irgendjemand sonst – die Rede ist immer von etwa 600 – und hat mit 75 Jahren im Dienste der Comics gewiss einen weiteren Rekord gebrochen. Ohne ihn wäre bis heute jeder Superheld so stinklangweilig wie „Superman“. Viele mögen das unwichtig finden – wie sie überhaupt Comics, innovativen Hausfrauenfunk und Kinderfernsehen unwichtig finden. Sie haben sicher recht. Meine persönliche Erfahrung ist eine andere.
Ich trauere um einen ganz Wichtigen.
Stan Lee kommt aus einer aus Rumänien stammenden jüdischen Familie und bisweilen spiegelte sich seine Herkunft auch in seinen Comics wider: Captain America kämpft gegen Nazis und Hulk erinnert an die alten jüdischen Erzählungen über den Golem. Die modernen Superhelden und Superheldinnen sind ein Echo der alten Heldensagen und greifen auch immer wieder einmal auf Versatzstücke aus der griechischen Mythologie oder den biblischen Erzählungen zurück. Der Mythos vom Helden, der entweder selbst einen Entwicklungsprozess durchmachen muss oder den bösen Nachbarn niederhaut, überschreitet die Grenzen von Zeiten und Kulturen.
ORF
___
* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2015/12/28/gaensefuesschen-mit-weglaufsperre/
** Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2015/03/27/unter-fremder-signatur/ – Etwas anders verhält es sich mit den Namen der zahllosen Animatoren, die Disneys Trickfilme gestalteten.
Pingback: Man wird alt wie’ne Kuh … - Monty Arnold blogt.Monty Arnold blogt.