Über die Grundlagen des Lesens von Blatt
Was bewundert der Laie am Schauspieler, noch bevor er sich von seiner eigentlichen Darstellung gefangennehmen lässt? Wir erkennen es an der Frage, die den Angehörigen dieses Berufsstandes im Foyer oder am Bühneneingang besonders häufig gestellt wird, wenn wir der Legende glauben (vor allem auf Tournee): „Wie schaffen Sie es nur, den ganzen Text zu behalten?“ (Die nächstschlimmeren Fragen stammen von schlecht vorbereiteten Journalisten …)
Wir sollten diese Gedächtnisleistung nicht als allzu schnöde antun, bildet sie doch die Voraussetzung für eine bestrickende künstlerische Darbietung nach einer Vorlage. Andererseits ist es genau diese Befähigung des Menschen, mehrere Stunden Text im Gehirn zu speichern, die uns beim Lesen vom Blatt in die Quere kommen kann. Zumindest zu Beginn, ehe wir wirklich Übung darin haben.
Wie funktioniert dieses Kunststück, das den Laien erstaunt und den Fachmann sich wundern lässt?
Viele Schauspieler sind in der Lage, den Text „abzufotografieren“ und ihn im Bedarfsfalle dort abzulesen. Wenn Striche vorgenommen oder die Reihenfolge einzelner Textpassagen verändert wird, kann das zu Irritationen führen.
Ich war verblüfft, als mir das vor vielen Jahren zum ersten Mal ein Kollege erzählt hat. Ich war außerdem wahnsinnig neidisch, denn ich verfüge nicht über dieses Talent. Und ich gehöre damit einer Minderheit an, da die meisten von uns optisch ausgerichtet sind. Ich bin eher ein Ohrenmensch. Ich kann mir einen Text nur akustisch einprägen, muss ihn also laut lesen oder mir dies wenigstens vorstellen, um ihn behalten zu können. Den Rest löse ich mittels inhaltlicher Assoziationen.
„Nochmal probieren“ ist sinnlos
Jenseits solcher Spitzfindigkeiten sind wir alle – auch Nicht-Schauspieler – von klein auf darauf ausgerichtet, Bewegungen zu üben, bis wir sie beherrschen. Das meiste, was wir tagtäglich tun, besteht aus motorischen Verrichtungen und fällt in den Aufgabenbereich unseres Muskelgedächtnisses.
Was bedeutet das für das Lesen vom Blatt? Wenn wir – darin noch ungeübt – eine Zeile vorlesen, sollten wir uns zunächst vorstellen, wie sie klingt. So fällt uns ein Fehler gegebenenfalls auf, und wir können ihn korrigieren, ehe wir ihn ausgesprochen haben.
Haben wir uns den Fehler erst einmal sagen hören, ist er in der Welt. Dann ist es viel schwerer, uns wieder von ihm zu lösen. Unser Muskelgedächtnis, dem auch unsere Sprechvorrichtung unterworfen ist, wird dazu neigen, das zuletzt getane nur zu wiederholen. Es einfach nochmal zu probieren nützt gar nichts. Zuvor müssen wir eine Alternative gefunden haben (idealerweise die richtige Betonung), um das Gesagte und Gehörte auslöschen zu können.
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