Die „Tatort“-Top 5 – Nachruhm als Missverständnis

betr.: Heute ist Sonntag!

Es mag uns gefallen oder nicht: die Endlos-Serie “Tatort“ ist das Größte, was das lineare Fernsehen noch zu bieten hat. Bis man sich mit Thomas Gottschalk über neue Folgen von „Wetten dass ..?“ geeinigt haben wird, wird sie außerdem das einzige bzw. „das letzte große Lagerfeuer“ der deutschen TV-Nation sein.
Mittlerweile gibt es beim „Tatort“ mehr Jubiläen (was Jahre, Episoden und Ermittlergedenkfeiern betrifft) als andere Serien Episoden haben. Regelmäßig werden „Bestenlisten“ herausgegeben, zum Beispiel diese:

Die Liste stammt aus einem „Tatort“-Handbuch von 2000 (also zum 30. Geburtstag der Serie). Sie basiert auf den Nennungen der Episoden in den Artikeln des Buches, ist aber dennoch repräsentativ. Sie gleicht auffallend der Top 5 der Hitparaden, die regelmäßig in TV-Zeitschriften und Krimiforen präsentiert werden. Deshalb sei sie hier stellvertretend näher betrachtet, auch als Platzhalterin für die vielen Rankings, die überhaupt in den Medien stattfinden.
Dabei geht es nicht um die Verwerfung eines sicher wohlbegründeten Urteils, sondern um die ganz praktische Frage: dürfen wir diese Liste als Empfehlung lesen, welche Folgen es wert wären, mal wieder angeschaut zu werden?

Platz 1:
„Reifezeugnis“ (NDR 1977) ist tatsächlich eines der schönsten Fernsehspiele der Bonner Republik und dürfte seinen Ehren-Spitzenplatz in sämtlichen einschlägigen Aufzählungen weiterhin behaupten. Nebenbei ist es eine Freude, dass es damit auch beim ermittelnden Beamten, dem köstlichen Kommissar Finke aus Kiel (Klaus Schwarzkopf), den Richtigen getroffen hat.

Platz 2:
„Frau Bu lacht“ (BR 1995) ist unzweifelhaft ein Höhepunkt des Tatort-Breitbildzeitalters. Dass ihm niemals ein anderer Fall des bis heute amtierenden Duos Batic/Leitmayr vorgezogen wird, ist aber eine Verneigung vor seinem Regisseur Dominik Graf, der – ähnlich wie bei „Reifezeugnis“ der spätere Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen – inzwischen über Vergleiche mit Kollegen erhaben ist. Außerdem zeugt solch stabile Huld von der großen Unlust der jeweiligen Jury, das Repertoire noch einmal zu sichten und neu zu bewerten. Mein persönlicher BR-Favorit dieser Amtszeit ist „Nie wieder frei sein“, der 14 Jahre nach Erstellung dieser Liste herauskam.

Platz 3:
„Tote Taube in der Beethovenstraße“ (WDR 1973) ist eine seismische Peinlichkeit, ein missgestaltetes Kuriosum, Anwärter für ein ganzes Körbchen goldener Himbeeren. Die mittlere Hollywood-Größe Samuel Fuller wurde gewonnen, Regie beim Filmstar-haftesten Tatort-Ermittler zu führen, der sich bis heute denken lässt: beim (in der Tat international tätigen) Sieghardt Rupp. Ich war nicht dabei, bin aber überzeugt, dass der Zollfahnder Kressin schon dem damaligen Publikum als Cartoonfigur erschienen sein muss, die sich der WDR als größte und leistungsfähigste ARD-Anstalt einfach mal gönnen durfte. Ausgerechnet bei diesem Fall kommt Kressins Selbstironie an ihre Grenzen: man nimmt sich allenthalben so ernst, dass das absurde Buch, die popelige Action und die knödelige Synchronisation ein umso groteskeres Gemisch ergeben. Spätestens mit dem heutigen Abstand.

Platz 4:
„Duisburg-Ruhrort“ (WDR 1981) verfügt über eine denkwürdige Eröffnungsszene, die das Entrée des bahnbrechenden TV-Ermittlers Horst Schimanski enthält. Abgesehen von diesem historischen Aspekt gibt es natürlich bessere Episoden. (Die frühen und die späten der 30 Einsätze machen mir insgesamt mehr Spaß als die in der Mitte.) Aber alles in allem ist Schimanski weitaus schlechter gealtert als sein vergleichsweise „konventioneller“ Vorgänger Kommissar Haferkamp alias Hansjörg Felmy, auf dem die Schimanski-Hersteller seit 40 Jahren nicht müde werden, herumzuhacken. Klar: Georges Macken, seine Körperlichkeit, die Schnodderigkeit, der triste Realismus, die dramaturgische Wichtigkeit der Kommissare … all das war flott und gewagt – und gehört inzwischen ja einfach dazu. Aber wo „Kult“ draufsteht, ist häufig ebensoviel Trash drin. Ähnlich wie heute Jan Josef Liefers, himmelte sich Götz George in seiner Rolle so penetrant selber an, dass die Verehrung von Fans gar nicht mehr gebraucht wurde.   

Platz 5:
„Tod im Häcksler“ (SWF 1991) ist inhaltlich ein solide-mittelprächtiger Einsatz für Lena Odenthal, aber mit Ben Becker als prominentem Traumduo-Partner und Nico Hoffmann als Mitautor und Regisseur mal wieder so ein Fall von „Mensch, das muss ja doll sein“. Im Zweifelsfall: einfach mal selber anschauen und nicht zu viel erwarten.

Was sollte man sich sonst / stattdessen ansehen?

Es gibt Juwelen der Reihe, die offiziell weniger hermachen, etwa „Flucht nach Miami“, „Alles umsonst“, „Ohnmacht“ oder „Die Abrechnung“ (WDR 1975 – der Titel wurde nochmals vergeben). Bis auf wenige Ausnahmen sind ein besonderes Vergnügen: die wenigen Fälle mit Horst Bollmann als MAD-Oberstleutnant Delius (NDR) sowie Gustl Bayrhammers Veigl-Tatorte aus dem München der 70er Jahre – hier sind dramatisches Kammerspiel und Humor so gut ausbalanciert wie sonst nur bei Kommissar Finke.

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