Platznachteil für Späteinsteiger

Aus der Serie „Ixen für Anfänger“ über die Arbeit am Mikrofon

Wer in die Sprecherszene einsteigen möchte, ohne als Sprecherkind quasi im Studio aufgewachsen zu sein, hat es schwer. Selbst wenn er oder sie eine Schauspielausbildung hat, ist das kein Freibrief – diese wird im öffentlich-rechtlichen Hörspiel geschätzt, an allen anderen Stellen der Branche aber eher beargwöhnt.
Wer 30 oder älter ist hat es noch schwerer. Nicht nur weil er dann nicht mehr schlichtweg wegen seiner Jugend attraktiv ist (in dem Sinne, dass viele Kollegen einfach gern von Zeit zu Zeit junge Menschen um sich haben), sondern auch weil er die Frage provoziert: „Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt? Wir kennen Sie ja noch gar nicht. Können Sie das denn überhaupt?“
Diese Frage wird nicht offen gestellt, aber sie steht im Raum, und sie ist nicht unberechtigt.
Natürlich gibt es viele mittelmäßige Kräfte, die sehr gut zu tun haben. Sie  werden wegen ihrer Abkunft eingesetzt, wegen ihrer Routine (was nicht zwangsläufig zu Qualität führt, aber gut durch die Dispo hilft), wegen ihrer Fähigkeit, Aufnahmeleiter um den Finger zu wickeln oder schlichtweg weil sie gestern auch schon gebucht waren. Diese Kriterien lassen sich auf Anfänger nicht übertragen und wären ohnehin keine Arbeitsgrundlage.

Ich muss in diesem Zusammenhang immer an das Berufsethos amerikanischer Sängerinnen und Sänger denken, die eine Karriere im klassischen Fach anstreben.
Der Konzert- und Opernkritiker Kai Luehrs-Kaiser bekannte einmal, dass das Timbre amerikanischer Stimmen – vor allem bei Sopran und Mezzosopran – auf ihn immer etwas künstlich wirkt, so als wäre ein Bühnenscheinwerfer darauf gerichtet (was nicht als Kritik gemeint war). Als er eine Betroffene darauf ansprach, nämlich Joyce DiDonato, erklärte sie ihm: „Wir Gesangsstudentinnen in den USA kriegen als erstes beigebracht: Folge den Regeln, die wir dir aufzeigen, denn du wirst durch Perfektion einen Platznachteil gutmachen müssen, den du als Amerikanerin hast, weil Oper und Klassische Musik eine genuin europäische Angelegenheit sind.“
Also: Technik und Bruststimme in den Vordergrund stellen. Üben, üben, üben – denn Nachlässigkeit ist eine beliebte aber schlechte Ratgeberin.

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