betr.: Sprechen am Mikrofon
Sprechen hat nicht nur biologisch mit Atmung zu tun. Es funktioniert auch technisch nach ähnlichen Gesichtsunkten. Wir können den Atem bewusst steuern, aber wenn wir ihn außer Acht lassen, läuft er automatisch weiter. (Geregelt wird das im sogenannten Atemzentrum, das aus millimeterkleinen Zellverbänden besteht, angesiedelt im Hirnstamm.)
Wenn wir einen Text gut und professionell vorlesen, sind wir uns bei jeder Zeile im Klaren, was sie in diesem Zusammenhang bedeutet. (Geregelt wird das in unserem Kopfkino, das alles Gesagte in Bilder umsetzt.) Wir verfolgen diesen fremden Gedankengang als wäre es unser eigener.
Sind wir nicht bei der Sache (Wir sehen keine Bilder!), verfallen wir automatisch in eine Routine: einen Singsang. Wir verstehen wohl noch Wörter und Sätze, ignorieren aber den Zusammenhang, in dem sie stehen. Und verstehen wir ein Wort oder einen Satz nicht, retten wir uns über diese Untiefe hinweg und lesen weiter – es wird schon niemand gemerkt haben.
Als Zuhörer können wir mit diesem Gestus umgehen, denn er ist uns vertraut. Wir sind allerdings nicht in der Lage, dem Vortrag tatsächlich über einen gewissen Zeitraum zu folgen. Wir schweifen schnell ab und müssen jedesmal mit Mühe zurückfinden. Wir müssen als Zuhörer die Nachlässigkeiten ausgleichen, die sich der Vortragende leistet.
Wir müssen seine Arbeit machen.
Dieses „Leiern“ ist unser aller Notfallmodus.
Er springt automatisch an, sobald wir selbst beim Vorlesen vom Inhalt abschweifen. Geübte, aber unprofessionelle Vorleser (etwa im Familien- oder Vereinsleben) befinden sich sogar beständig in diesem Modus und können ihn gar nicht verlassen. Ungeübte Vorleser mit professionellem Hintergrund – z.B. TV-Kommissare und -Kommissarinnen, die wegen ihrer Prominenz verpflichtet werden, Hörbücher einzusprechen – können sich auf diese Weise durch ganze Kriminalromane hindurchmogeln, ohne ihre Nicht-Eignung (bzw. ihre Nachlässigkeit) eingestehen oder gar den Auftrag absagen zu müssen. Doch das Ergebnis kommt über das beschriebene Niveau nicht hinaus.
Woher kommt diese Art, das Vorzulesen vorzutäuschen?
Es ist die Art und Weise, auf die wir in der Grundschule gelernt haben, Auswendiggelerntes aufzusagen. Wie wir uns erinnern, geht es bei dieser Verrichtung um den sportlichen Fleiß, den Text im Kopf zu behalten, und nicht darum, ihn zu verstehen oder zu gestalten.
Viele Schauspielschulen (auch staatliche) verfahren genauso, wenn es um die Einstudierung eines klassischen Theatertextes geht, der nicht unseren sprachlichen Gepflogenheiten entspricht. Somit wird diese Missachtung des Erzählten auch im Professionellen weitergepflegt.
Warum erregt diese handwerkliche Schlamperei beim Zuhören so wenig unseren Widerwillen und unsere aktive Zurückweisung? Weil sie uns so vertraut ist. Sie heimelt uns derartig an, dass schlechte Hörbücher trotzdem gekauft und nicht reklamiert werden – solange gewisse Regeln eingehalten werden (saubere und deutliche Aussprache, die Vermeidung von Versprechern).
Oftmals können wir uns mit der Prominenz des Vortragenden trösten.
Wir sind so erzogen.
Ein Kind, das ein Gedicht aufsagt, will gefallen. Es stört sich nicht daran, dass es den Text nicht versteht, und macht dieses Theater mit. Es begreift dies als seinen Beitrag zu einem Spielchen, dessen Regeln die Erwachsenen aufgestellt haben. Sind wir dann selbst erwachsen, honorieren wir umgekehrt die verlorene Liebesmüh des Kindes als Teilnehmer des gleichen Spiels. Wir erstatten nun die Belohnung und finden den Vortrag „niedlich“ oder „brav“. Wir loben ihn als „anständig“.
Er ist es nicht.