Der Song des Tages: „I’ll Be Seeing You“

betr.: 120. Geburtstag von Sammy Fain

Zu der Ballade „I’ll Be Seeing You“ habe ich eine besondere Beziehung. Eigentlich ist sie mir für einen Klassiker des Great American Songbook etwas zu betulich, denn für gewöhnlich lassen sich bei diesen auf den ersten Blick so simplen und eingängigen Songs unzählige tieferliegende Schichten freilegen – dramaturgisch, musikalisch, lebensphilosophisch, humoristisch. Das ist mir bei diesem Song nicht gelungen, aber vielleicht habe ich es auch bisher nur noch nicht richtig angestellt.
Jedenfalls merkte ich irgendwann, dass mir das Lied nicht mehr aus dem Kopf ging und machte es zum Eröffnungstitel meines Lieblingsprogramms „His Monster’s Voice“. An diesem Platz funktionierte es dann auch deshalb so gut, weil es einen gehaltvollen, aber steigerungsfähigen Akzent setzte (später folgten die kabarettistische Variation einer Kantate, eines Popeye-Cartoons und eines Stummfilms, die Verhöhnung eines Protestliedes und vieles andere).

„I’ll Be Seeing You“ wurde mit auch an prominenterer Stelle vielsagend platziert. Als sadistische Krankenschwester foltert Kathy Bates ihren Patienten in der Stephen-King-Verfilmung „Misery“ zum Beispiel, indem sie ihn zwingt, sein neuestes, noch unveröffentlichtes Manuskript zu verbrennen oder indem sie ihm die Fußgelenke bricht. Schlimmer dürfte es für den armen Teufel gewesen sein, durch die Wand die Liberace-Platten mitzuhören, die sie ständig auflegt. (Ihr Opfer kann von Glück sagen, dass Andrew Lloyd Webber offensichtlich noch nicht bis in diese entlegene Gegend vorgedrungen ist!)
In diesem Programmumfeld ist Liberaces Version von „I’ll Be Seeing You“ mindestens so beglückend wie jener Moment, indem ein Zahn plötzlich aufhört wehzutun. Der Künstler unterbricht sein menschenverachtendes Geklimper für einige Minuten, um mit seiner schlichten, aber letztlich untadeligen Baritonstimme diesen Titel von Sammy Fain und Irving Kahal zu einer zurückhaltenden Tinkling-Piano-Begleitung zu singen. Der Song liegt unter dem Abspann und – wenn ich mich recht erinnere – auch unter dem Abendessen, in dem James Caan vergeblich versucht, seine Peinigerin zu vergiften.

In solcher Unverwüstlichkeit liegt freilich der vornehmste und wichtigste Vorzug eines Titels aus dem Great American Songbook, weit wichtiger als die eingangs angedeuteten Spitzfindigkeiten. Ein britischer Musiktheoretiker hat übrigens doch noch etwas gefunden: Sammy Fain habe seine Titelzeile bei Gustav Mahler geklaut.

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