Wie man große Reden schwingt ohne sich festzulegen

Es gibt Reden, die als politisch verstanden werden möchten – nicht im tagespolitischen Sinne, sondern weil sie Allgemeingültigkeit beanspruchen – und die doch das Gegenteil davon sind: unverbindlich, banal und vor allem: bemüht, kein Missfallen zu erregen. Wer einer solchen Rede zuhört, kann sich als Mitglied in einem Club der Besseren fühlen, wer sich ihr anschließt, kann nur auf der richtigen Seite stehen.
In der Politik wurden solche Reden seit der Antike häufiger gehalten als man denkt. Hier soll es um die fiktive Variante gehen, wie man sie in Kunstwerken antrifft. Sie ist nur insofern tagespolitisch relevant als es das sie umgebende Werk auch ist.
Das schönste Beispiel für ein solches Zusammentreffen ist die Schlussansprache in „Der große Diktator“ von Charles Chaplin. Hier sind der Schöpfer und seine Kunstfigur ausnahmsweise identisch – in den allerletzten Minuten da diese überhaupt auf der Leinwand existiert. Auf dem Papier wäre Chaplins Text (der längst zum Allgemeingut geworden ist und aus dem hier deshalb nicht zitiert werden muss) ein Musterbeispiel für die beschriebene wohlfeile Rede. Als Finale des ersten Kinofilms, der es wagte, den amtierenden Führer des Deutschen Reichs anzuklagen, war er tatsächlich ein Politikum, das die Propagandaschlacht im Unterhaltungskino in die heiße Phase eintreten ließ.

Der Schauspieler Heinz Rühmann (der in der Bonner Republik häufig mit Chaplin verglichen wurde) liebte solche Reden und hätte sie gern viel häufiger gehalten, hätte die Materialsituation es hergegeben. In vielen seiner Filme gibt es kleine Moralpredigten, in denen zu diesem preiswerten Humanismus aufläuft. Die kurzen Ausbrüche (denen stets anzumerken ist, wenn sie eigens und nachträglich ins Drehbuch eingefügt wurden) waren ein wichtiger Bestandteil des Rühmann-Konzeptes vom „kleinen Mann“, der das Herz letztlich auf dem rechten Fleck hat und mit dem wir uns (auch als Frau) alle identifizieren können.*

In den 60er Jahren hatte Heinz Rühmann längst alle experimentellen Anwandlungen – es hat solche durchaus geben! – hinter sich gelassen. In zügiger Folge trat er in drei CurtGoetz-Verfilmungen auf.** Es waren drei Remakes, die wiederum auf Theaterstücken basierten. Am besten gefiel Rühmann sein „Dr. med. Hiob Prätorius“ („eine Geschichte ohne Politik“ vermerkte der Autor im Untertitel). Hier fand der Schauspieler die gewünschte Ansprache bereits vor und durfte sie sogar in einem Hörsaal der Anatomie halten. Doch es kam noch besser. Rühmann in seiner Autobiographie: „Aus produktionstechnischen Gründen wurden dieser und andere Komplexe in Prag gedreht. Ich hielt also diese Ansprache vor jungen tschechischen Menschen. Sie bekam dadurch einen besonderen Unterton, eine zusätzliche Dimension. Einerseits belastete es mich, diese Botschaft des Humanismus als Deutscher einem solchen Auditorium zuzurufen, andererseits war ich stolz, dass ein deutscher Schriftsteller schon vor vielen Jahren diese Worte gefunden hatte, die ihre Bedeutung für die Welt nicht verloren haben.“
Ein so kluger Humorist wie Curt Goetz (1888-1960) wusste natürlich, welche Textgattung er tatsächlich bespielte, als er diese Vorlesung über „die Mikrobe der menschlichen Dummheit“ verfasste.

Der Text findet sich hier: https://blog.montyarnold.com/2022/08/05/curt-goetz-mikrobe-der-menschlichen-dummheit/

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* Und sie versauen auch schon mal eine ansonsten zeitlos-fabelhafte Darstellung: https://blog.montyarnold.com/2017/07/02/die-schoensten-filme-die-ich-kenne-32-ein-mann-geht-durch-die-wand/
** Um diese Zeit schaffte Rühmann es auch in seine einzige Hollywood-Produktion, der er sich tatsächlich als verfolgter Jude anzudienen verstand: https://blog.montyarnold.com/2015/01/24/der-dritte-mann-von-der-tankstelle/

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