Die wiedergefundene Textstelle: „Vorlesung über die Mikrobe der menschlichen Dummheit“

Dr. med. Hiob Prätorius
Independent Film, Berlin 1950
Produziert von Hans Domnick
Drehbuch von Curt Goetz nach seinem Theaterstück
Regie: Kurt Hoffmann

Zeit: Jahrhundertwende
Ort: — (Der Autor wollte sich nicht festlegen.)

Dr. med. Hiob Prätorius erfreut sich aufgrund seiner Güte und Menschenfreundlichkeit bei den Patienten, im Ärztekollegium und bei der Studentenschaft gleichermaßen einer großen Beliebtheit. Lediglich sein Kollege Prof. Speiter missgönnt ihm den Erfolg …
Im ersten Akt doziert Curt Goetz als ein in Gestik und Mimik enthusiastischer Tausendsassa pointenreich und mit viel Pathos über die „Mikrobe der menschlichen Dummheit“, die er für die Ursache allen Übels hält.
In diese Bearbeitung sind eingeflossen: die Urfassung von 1929, die Überarbeitung von 1945, die Verfilmungen von 1950 und 1965. Nicht berücksichtigt wurde die US-Version von 1951 „People Will Talk“ mit Cary Grant, für die Joseph L. Mankiewicz die Adaption besorgte.


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Könnte ich mit euch jenen Nachem besteigen, der uns über das schwarze Gewässer zum anderen Ufer geleitet wo im Reiche der Vergangenheit die Schatten der Verstorbenen mácra bibása – weit ausschreitend, wie wir wissen – verweilen, und könnten wir dort als lernbegierige Zaungäste einen ersten Blick in die blauen Geheimnisse tun, welch wundervolles Abenteuer wäre das! Stattdessen sollen wir Ihnen hier am toten Fleisch eines Mädchens beweisen, dass sie sterben musste und warum sie sterben musste, ohne Ihnen gleichzeitig verraten zu können, warum wir Leuchten der Wissenschaft, obgleich wir wussten, dass sie sterben musste, dieses nicht zu verhindern wussten.
Weder wir noch irgendeine Macht der Erde hätte ihr helfen können, nachdem es dem Gevatter beliebte, sich ihrer zu erinnern. Und wäre dieses letzte Geheimnis nicht um den Tod, so wäre unsere Aufgabe noch nüchterner als sie es schon ist, unsere Aufgabe, die darin besteht, Ihnen, nachdem wir Ihnen das Wunder der Geburt entzaubert haben, nunmehr die Poesie des Todes zu zerstören. Denn nichts Majestätisches hat dieser Geselle! Kein Mittel ist ihm zu schlecht, keine Mikrobe zu winzig, kein Zufall zu läppisch. Er ist kleinlich, berechnend, hämisch und übelriechend.
Nicht, dass wir ihn fürchten. Wenn wir bedenken, wie lange wir tot waren, ehe wir geboren wurden, ohne dass es uns gesundheitlich geschadet hat, müssen wir die Angst vor dem Tode verlieren. Aber es ist unsere Pflicht als Ärzte, ihn zu hassen! Von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Es ist unser Beruf, ihn zu verabscheuen. Wir dürfen nicht müde werden, ihn zu verfolgen, zu belauschen, ihm auf die Finger zu klopfen. Und wenn wir ihm sein letztes Geheimnis auch nicht werden entreißen können, so wollen wir versuchen, ihm sein vorletztes zu entwinden! Aber dazu ist es nötig, seine schmutzige Wühlarbeit rückwärts zu verfolgen. Wir müssen sehen, wie er es gemacht hat. Wir müssen die Kadaver öffnen.
Auch Sie, meine Damen! Und zwar werden Sie nicht nur Ihre Nerven in der Gewalt haben, Sie werden die volle Wucht und Kraft Ihres Leibes ins Treffen führen müssen. Sie werden, um gewisse Zergliederungen vornehmen zu können, einen förmlichen Ringkampf mit den Leichen aufzuführen haben!
Sie werden sich das überlegt haben!
Trotzdem gestatten Sie mir, bevor ich dies Leichentuch wegziehe, hier, an der Schwelle des Todes, noch einmal vom Leben zu sprechen!
Sie wollen ja nicht immer hier unten bleiben. Nein, Sie wollen – einem dringenden Bedürfnis nachzukommen – Ärztinnen werden. Kranke gesund machen! Bravo! Das macht viel Spaß, solange Sie nicht daran sterben! Aber wo der Arzt ist, ist Krankheit. Und wo Krankheit ist, ist Tod! Krankheit und Tod – in dieser Gesellschaft werdet ihr euch euer Leben lang bewegen!
Kinder, ich verstehe euch nicht! Ja, wenn ihr zehn Leben zu leben hättet und wolltet eines auf diese Weise verbringen …, aber wo ihr nur das eine habt?
Wisst ihr, weiß eure Generation, wie schön die Welt ist? Gar nichts wisst ihr! Von Hungernöten wisst ihr! Ihr wisst etwas von Atombomben und internationalen Konflikten. Und von Nahrungsmitteln, die ins Meer versenkt werden! Von Völkern wisst ihr, die, um Heim und Leben zu schützen, sich Regierungen wählten. Und dann haben sie ihr Heim zu verlassen und ihr Leben zu geben, um diese Regierungen zu schützen! Millionen junger Menschen, die nicht kämpfen wollen, bekämpfen Millionen anderer junger Menschen, die ebenfalls nicht kämpfen wollen! Und die Errungenschaften der Wissenschaft haben wir zu keinem anderen Zwecke errungen, als um alles Errungene zu zertrümmern!
Das ist die Welt von heute!
Aber kann sich das morgen nicht ändern? Van Leeuwenhoek entdeckte die Mikrobe im Wassertropfen, Pasteur den Erreger der Tollwut, Robert Koch den Erreger der Schwindsucht, Roux und Grassé kämpften erfolgreich gegen die Malaria. Und Paul Ehrlich bezwang die Spirochaeten der Syphilis! Und dach dem Gesetz, dass ein Mittel gegen eine Krankheit immer dann gefunden wird, wenn diese Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hat, wenn sie schier unerträglich geworden ist, nach diesem Gesetz muss heute oder morgen die Mikrobe der menschlichen Dummheit gefunden werden -:
„Denn was dem Abgrund kühn entstiegen,
Kann durch ein ehernes Geschick
Den halben Weltkreis übersiegen …
Zum Abgrund muss es doch zurück!“
Und wenn es gelingt, ein Serum gegen die Dummheit zu finden, diese entsetzlichste aller ansteckenden Krankheiten, dann wird es im Nu keinen Hass, keine Zölle und keine Kriege mehr geben, und an die Stelle der internationalen Diplomatie wird der gesunde Menschenerstand treten.
Aber wer soll den Anfang machen mit der Gescheitheit? Solange nicht alle kuriert sind, ist der einzelne Kluge der Dumme! Das wiederum ist das Dumme! Und deshalb sage ich: wem es gelänge, den gesunden Menschenverstand mit einem Schlage wiederherzustellen, wäre ein Wohltäter der Menschheit, sei er nun ein Prophet durch die Macht der Lehre, oder – am sichersten – ein Arzt durch die Erfindung eines Serums!
(zärtlich werdend) Die Dummheit tot! Welch phantastische Perspektive! Nur in der Liebe, meine Lieben, wo die Dummheit jedes Maß übersteigt, da ist sie entzückend und liebenswert, und da sollten wir auch der Besiegten ein dauerndes Asylrecht gewähren.
Und damit sind wir wieder beim Thema, bei Ihrem Thema, meine Damen, denn Ihr Thema ist die Liebe, nicht die Anatomie. Gelehrt sind wir genug. Was uns fehlt, ist Freude, was wir brauchen, ist Hoffnung, was uns nottut, ist Zuversicht, und wonach wir verschmachten, ist Frohsinn!
Wo sollen eure Kinder die Frohnatur hernehmen, wenn Mütterchen Knochen zersägt!?
Und darum, bei allem schuldigen Respekt vor der Wissenschaft, helfen Sie uns, den Tod zu bekämpfen mit den Mitteln, die Ihnen Gott in den Schoß gelegt hat: mit der Gnade, neues Leben zu gebären! Bewahren Sie sich die Heiterkeit Ihres Gemütes für Ihre Kinder. Und, wenn es auch ein wenig altmodisch anmutet: Kriegen Sie welche!

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Eine Antwort zu Die wiedergefundene Textstelle: „Vorlesung über die Mikrobe der menschlichen Dummheit“

  1. Prof. Dr. med. Michael Schmitz sagt:

    Eine der besten Vorlesungen, die kenne.
    Dem Tenor folgend muss man auch immer vom der Ärzteschaft sprechen und nicht von
    Medizinern.
    Arzt sein verlangt Menschenliebe, Güte, Bescheidenheit und Demut.
    Vom Zeitgeist der Dienstleistung ist hier nicht die Rede.

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