Die schönsten Filme, die ich kenne (114): „Blue Jasmine“

Nach dem Scheitern ihrer Ehe mit einem betrügerischen Investment-Tycoon steht die flatterhafte Jasmine mit Chanel-Jäckchen und Louis-Vuitton-Koffer bei ihrer Schwester Ginger vor der Tür, um sich einzuquartieren. Der Absturz ist tief: Jasmine ist das Leben auf Manhattans Upper East Side gewohnt und muss nun bis auf Weiteres in Downtown San Francisco leben – unter einfachen Leuten, die ihr offensichtlich zuwider sind. Sowohl Gingers prolligen Exmann – der zwei halbwüchsige Söhne in deren Leben zurückgelassen hat – als auch ihren aktuellen Lover Chilly hält sie für Verlierertypen. Ihr gönnerhaftes Gebaren stößt auf Verständnis. Schließlich macht sie eine schwere Zeit durch – Jasmine neigt zu Panikattacken und Selbstgesprächen und spült Unmengen von Pillen mit Wodka hinunter.
Während sie widerwillig und ungeschickt als Praxishelferin bei einem Zahnarzt jobbt, hält sie Ausschau nach einem reichen Verehrer, der ihr die Rückkehr in ihr altes Leben ermöglicht. Doch die wie beiläufig eingestreuten Rückblenden verraten uns nach und nach die Details der Vorgeschichte. Und dass der Abstieg nicht aufzuhalten ist …

Bald nach seinen ersten Erfolgskomödien drehte Woody Allen ein paar Filme, die ihn als gelehrigen IngmarBergman-Bewunderer auswiesen. Zeitweise wurde schon befürchtet, er sei vollständig ins ernste Fach gewechselt. Aber erst gut 20 Jahre später lotete der Autorenfilmer die Abgründe der menschlichen Seele wieder ähnlich tief aus. Neben „Match Point“ ist „Blue Jasmine“ die konsequenteste Tragödie im Spätwerk von Woody Allen, und sie ist ähnlich makellos. Der Ton ist ein anderer: es wimmelt von Slapstick und knuffigen Charakteren, doch eine verderbtere Figur als Jasmine – eindringlich gestaltet von Cate Blanchett – hat es jenseits des Trash-Kinos selten auf der Leinwand gegeben. Da muss man schon bis zu Hitchcock oder Chabrol zurückgehen.

Meine persönliche Erfahrung lehrt, dass man sich vor Menschen von der Sorte dieser Heldin in Acht nehmen muss. Sie ist eine komplette Soziopathin, die jeden, der ihr zu nahe kommt, beschädigen oder vernichten wird – egal, ob der Kontakt auf Arglosigkeit, Nettigkeit, Anstand, Sympathie, sexuellem Interesse oder Mitleid ihres Gegenübers beruht. Das einzige, was man für Jasmine ins Feld führen könnte, ist ihre fehlende böse Absicht: sie ruiniert sich selbst und reißt andere mit den Abgrund.
Das ist freilich meine persönliche Sicht auf diesen Film, der konsequent im Ton der Komödie erzählt wird. Woody Allen verzichtet auf jegliche Erklärungen (wer solche Bevormundung schätzt, ist bei Steven Spielberg in besseren Händen). Als sich doch ein Journalist sorgte, was denn nach dem Abspann aus Jasmine werden würde – ob sie ins Obdachlosenasyl käme oder vielleicht in die Psychiatrie – meinte Woody Allen nur, ja, das sei beides durchaus möglich.

Die inhaltlichen Parallelen zu Klassikern wie „Endstation Sehnsucht“ und „Madame Bovary“ sind augenfällig. Sie bringen diesen Film keine Sekunde lang in Verlegenheit.

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