Einladung in den intimen Raum

aus der Reihe „Ixen für Anfänger“

betr.: Sprechen am Mikrofon

Manche Menschen lesen lieber, andere hören lieber zu. (Ich persönlich liebe beides und bin in meinem Konsumverhalten mit abnehmender Sehkraft – nicht nur wegen der Qualitätsverschiebung – vom TV-Bildschirm an den Radiolautsprecher gewechselt.)
Für den Interpreten von Hörbüchern gibt es also zwei potenzielle Publikumsgruppen: die, die lieber zuhören und die, die auch gern zuhören.
Welche Zurückhaltung hier zu zerstreuen ist, hat die Autorin Julia Franck formuliert, als sie gefragt wurde, ob sie bei Lesungen aus ihrem eigenen Werk auch eine Passage vortrüge, die einen persönlichen Trauerfall beschreibt. „Nein“, antwortete sie dem SZ-Magazin, „bestimmte Beschreibungen in Büchern haben das Anrecht auf den intimen Raum zwischen Leser und Text. Würde ich sie vorlesen, käme es durch meine Stimmlage und darstellerische Momente zu einer bestimmten Interpretation. Ich möchte es aber dem Leser überlassen, wie er das Buch liest.“ An anderer Stelle sagte sie über ihr Lesen wie auch über ihr Schreiben: „Es gibt nichts Süßeres als die Intimität zwischen mir und einem Buch.“
Bei einer Hörbuch-Produktion geht es naturgemäß nicht um persönliche Erlebnisse dessen, der da spricht; außerdem wären bei einer ungekürzten Lesung solche Aussparungen ja auch gar nicht möglich.
Trotzdem hat Julia Franck ein erstrebenswertes Ideal skizziert: die Stimme dient dem Text so gut es geht, indem sie einerseits nicht zu wenig tut, um die Inhalte nicht auszubremsen; und indem sie andererseits nicht zu viel tut, so dass dem Zuhörer Raum und Motivation für die eigene Interpretation bleiben.
Der offizielle Champion der Kunst dieser Abwägung ist Gert Westphal, der wichtigste Vorleser und Rezitator der jungen Bundesrepublik.* Er gilt allgemein als unantastbar.
Für mich ist der Goldstandard der literarischen Lesung Günter Sauers H. P. Lovecraft-Interpretation „Das Grauen von Dunwich“ aus dem Jahr 1975. Sauers Name ist selbst der ergebenen Hörgemeinde kein Begriff. Die Gründe dafür haben nichts mit seiner Leistung zu tun. Zum einen kam er zu früh für den Hörbuch-Boom der 90er Jahre – zu seiner Zeit wurden literarische Lesungen vom Rundfunk produziert, einmal gesendet und dann auf Nimmerwiederhören im Archiv versenkt. (Einige wenige wurden auf Sprechschallplatte gepresst, aber das war eine noch engere Nische.) Zum zweiten konnte Sauer nicht auf eine Fangemeinde hoffen, da er nicht im Synchron oder in einer populären Hörspielserie für Jugendliche wirkte und niemals einen TV-Kommissar spielte. Das größte Publikum erreichte er, wenn er ungenannt bei den damals beliebten TV-Mehrteilern das minutenlange „Was bisher geschah“ einsprach.
Seine überragende Qualität besteht im völligen Fehlen der kleinen Gefälligkeits-Manierismen, die selbst verdiente Stars der Szene auszeichnen – einst Gert Westphal, heute Bodo Primus oder Frank Arnold. Die Marotten werden besonders deutlich, weil diese Stimmen so überaus oft zu hören sind. Ekkehard Knöter beschrieb dieses Phänomen einmal so: „Oft liegt das Behagen am eigenen Können als leichte Schleimspur den Wörtern des Textes.“** Diese Spur mag bei den genannten Kollegen sehr dünn sein, aber sie ist da. Bei Sauers Vortrag fehlt sie völlig.
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* Westphal wird hier am 10.11. aus Anlass seines 20. Todestages ausführlich gewürdigt: https://blog.montyarnold.com/2022/11/10/gert-westphal/
** taz vom 26.4.2021

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