Das Selbstgefallen des Virtuosen

betr.: 20. Todestag von Gert Westphal

Unter Funkschaffenden, Sprecherziehern und konservativen Freunden des Hörbuchs und der Rezitation gilt Gert Westphal als der unbestrittene König der epischen Vorlesekunst. Neben seiner Begabung und den zielstrebig erworbenen Fähigkeiten war es der historische Moment, der diese unwiederholbare Karriere ermöglichte – so ähnlich wie es Jahrzehnte später Thomas Gottschalk auf einem anderen Gebiet gelang.

Der 1920 geborene Westphal hatte bereits als Teenager sein erstes Sprecherhonorar verdient (beim damaligen Mitteldeutschen Rundfunk – MIRAG – in Dresden). Nach dem Krieg, dessen Heimaturlaube er mit Vorleser-Tätigkeiten ausgefüllt hatte, wurde er Schauspieler, doch beständig suchte er die Nähe des Mikrofons und prägte damit auch die Art seiner Bühnensprache. Später ließ er die Bretter ganz hinter sich und zog kurz vor seinem Tode das selbstbewusste Resümee: „Ich muss kein Theater mehr bedienen, kann alles selber machen.“
1948 wurde er erst einmal Regisseur und Leiter der Hörspielabteilung von Radio Bremen, 1953-59 war er in solcher Funktion beim Südwestfunk tätig und trat immer wieder selbst ans Mikrofon. „Seine Aufnahmen aus den 50er und 60er Jahren strahlen noch heute großen Zauber aus, führte er seine samtig-melodiöse Stimme doch auf zurückhaltend distanzierte Weise so, als ob er sich in die Texte fragend hineinlesen würde.“* Die Sprechschallplatten dieser Zeit – etwa mit Hölderlin-, Rilke- und Trakl-Gedichten – waren „so intelligent und modern“ wie man es bei kaum einem seiner Kollegen fand. „Nicht zuletzt bestach Westphal durch die Intelligenz seines Vorlesens. Mit einer Art von rezitatorischer Geistesgegenwart verstand er es, noch kleinste Nuancen auszuformen: ein Lächeln, einen traurigen Blick, eine wehmütige Stimmung, einen deftigen Witz. Nichts wurde einfach so dahingesprochen, nichts im Einheitston intoniert, wie dies unter seinen Nachfolgern häufig der Fall war. Im Gegenteil schien er sich die narrative Gesamtstruktur genau erarbeitet zu haben und vermittelte einen souveränen Überblick über das Werk. (…) Wie er mit feiner Differenzierung des Tempos und der Lautstärke die Spannungskurven und den narrativen Rhythmus dieser Werke herausarbeitete, ganz abgesehen von der Differenzierung der Stimmprofile der in direkter Rede vorgestellten Figuren, das hatte man so noch nicht gehört.“

1963 las Westphal im NDR an 28 Abenden Thomas Manns „Joseph“-Roman, was heute als sein Durchbruch angesehen wird. In den folgenden Jahren festigte er diesen Ruf und mehrte er seinem Ruhm mit Marathonlesungen weiterer Klassiker, die in Sendereihen wie „Am Morgen vorgelesen“ präsentiert wurden. Parallel zur Manifestation von Hans Paetsch (1909-2002) als ultimativer Märchenonkel wurde Westphal zum gefeierten „Vorleser der Nation“, und Thomas Manns Tochter Katja erfreute ihn mit der Anrede „oberster Mund des Dichters“.
Ich glaube, wir können die Wertschätzung seiner Arbeit bei der Hörgemeinde noch heute allgemein voraussetzen.

Entsprechend schwer sind seriöse fachliche Analysen zu finden, die Gert Westphal kritisch würdigen oder ihn nach nicht-nostalgischen Gesichtspunkten einordnen.
Reinhart Meyer-Kalkus ging dieses Wagnis in „Geschichte der literarischen Vortragskunst“* endlich ein und folgt dabei zunächst dem Meister selbst, der wohlweislich einen Bogen um die Erzählkunst der Moderne gemacht habe. Vermutlich „war der rasche, häufig provokante Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenperspektive, zwischen der Stimme der Hauptfigur und den vielen Stimmen des sozialen Ambientes nicht seine Sache. Wo der Erzähler dergestalt an die Grenzen seiner Souveränität gelangte, ja gar zum unzuverlässigen Erzähler wurde, da verstummte seine Vorlesekunst.“ Den „Leistungen seiner Glanzzeit stehen (…) Lesungen gegenüber, in denen er seine humoristische Erzähler-Persona dramatisch-mimisch ausagierte und die Grenzen zur unfreiwilligen Komik überschritt.“
Als positives Gegenbeispiel wird einmal Erich Ponto angeführt, der im Hauptberuf Schauspieler blieb, dessen Lesungen heute aber als besonders kostbare Tondokumente gesucht und geschätzt werden. (Ironischerweise ist Pontos beständigste Leistung die Rolle des geschraubt daherredenden Paukers Crey in der „Feuerzangenbowle“ – der mit dem „wänzigen Schlock“.) „Während Ponto (…) nie aus der Rolle des Vorlesers heraustrat, auch wenn er die Stimmen der einzelnen Tierhöflinge charakterisierte, im Übrigen durch kunstvolle Rhythmisierung deutlich machte (…), löste sich Westphal von der Vorleserrolle, indem er das Lesepult zur Bühne (…) eines Tierstimmenimitators machte. Andere Grenzen werden hörbar, wenn er Frauen- und Kinderstimmen sprechen muss. Ohne, dass er die Kopfstimme einsetzt, timbriert er die Stimmen junger Frauen und von Kindern durchweg mit hohen, unangenehm gebrochenen Tönen, die gegenüber dem sonoren Bassbariton seiner Männerstimmen einen übel klingenden Kontrast schaffen.“
Die meiste Kritik an Gert Westphals Unbegabung zu speziellen Effekten und Kunststücken („Chargen“) wird anlässlich verrutschter oder unsauberer Akzent- und Dialektfärbungen geübt, was fehlende Selbsterkenntnis und die Bereitschaft mit einschließt, diese (bzw. die betreffenden Werke) schlicht auszulassen, wenn sie jenseits des eigenen handwerklichen Portfolios liegen. „Dazu gehört (…) Westphals Unfähigkeit, französischsprachige Ausdrücke, Redewendungen und ganze Sätze ohne Gekünsteltheit auszusprechen. (…) Verstörend wirken auch die dialektalen Partien in Fontanes und Thomas Manns Erzählwerken.“ In der „mitteldeutsch weichen Sprechweise“ einschlägiger Figuren hingegen „blüht der sächsische Komödiant hörbar auf“.
Der Gefahr, in die er sich da begab, muss Westphal bewusst gewesen sein. In einem Radiofeature zu seiner Vorlesekunst in Radio Bremen gestand er 1999: „Der Regisseur in mir lässt die Puppen tanzen, die aus meinem Fundus kommen.“ Das ist eine Aussage, die unseren Seitenblick auf das Versagen der Regie lenkt: man hat sich offenbar nicht mehr getraut, einem solchen Giganten überhaupt noch Regieanweisungen zu geben – und ihm damit ja möglicherweise unrecht getan.
 
Letztlich schreibt Meyer-Kalkus Westphal das immense Verdienst zu, die drei stimmlichen Ausdrucksmittel für das epische Vorlesen ausdefiniert zu haben: Erzählerstimme (nichtdiegetische, also nicht in die Handlung verwickelte Figur / mitfühlend betroffener Berichterstatter), Rede und Figurenrede (inszenierte Mündlichkeit ohne die „Realität abgehackter, von unvollständigen Syntagmen, ‚repair‘-Elementen und Hesitationen durchzogenen Äußerungen“).
Demnach stehen alle guten Vorleser unserer Tage auf seinen Schultern – auch ohne seiner Kunst zwingend persönlich gelauscht zu haben.
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* Auch die übrigen Zitate sind dem erwähnten zweibändigen Quellenwerk entnommen, J. B. Metzler Verlag 2020

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