Medienlexikon – Film und Fernsehen: Midcult

Midcult wird von der breiten Masse als hochwertige Unterhaltung angesehen, obwohl es sich nur um Hochmögendes, letztlich also um Triviales handelt, dessen Inhalt künstlich beschwert wurde. Der Ausdruck wurde ursprünglich auf Unterhaltungsliteratur angewandt, doch das von ihm bezeichnete Phänomen hat den gesamten fiktionalen Mainstream fest im Griff. Ganz besonders das Kino und die moderne Serie, aber auch Nischen wie Musical und Graphic Novel sowie weite Teile des Theaterangebots.

Der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler stellt in seinem Buch „Populärer Realismus“ die unbestreitbare These auf, dass viele Gegenwartsromane ihre Qualität dadurch zu steigern hoffen, dass sie ihren Figuren möglichst Tragisches widerfahren lassen. Baßler: „Wenn das Verhältnis von Darstellungs- und Deutungsebene in einem literarischen Text so organisiert ist, dass Themen des Traumas, des Leids und der Diskriminierung sowie insgesamt die Schlechtigkeit der Gesellschaft, der Anderen, des Kapitalismus oder der Welt den Text mit BIG SINN ausstatten, dann bedient diese Literatur Grundmuster des Midcult, der immer schon eine Culture Of Pain für besonders tiefsinnig hielt.“
Die Wortwahl des Autors deutet es an: die Amerikaner haben diese ebenso billige wie künstlerisch einengende Masche schon früher entdeckt, und sie würde weder dort noch hier funktionieren und wäre längst wieder aufgegeben worden, hätte das Publikum nicht so viel Freude daran. Der Konsument aus der Mitte der Gesellschaft, dem die Terminologie eine Vorliebe für Mittelmäßiges unterstellt – daher MIDcult –, musste früher wahlweise zu despektierlichen Trash-Produkten (Groschenromane, BILD-Zeitung …) oder zu unbequem anspruchsvoller Klassik (Oper, Tragödie, Weltliteratur) greifen, wollte er seine alltägliche Misere größerem Leid gegenüberstellen und sie damit relativieren (was ein legitimer Ansatz des Eskapismus ist). Heute kann der Bürger Schirach lesen – und so ohne Reue einen literarischen Elendstourismus genießen, auf den ja schließlich auch das Feuilleton hereingefallen ist. Die Sehnsucht nach so etwas wie Anspruch beim Konsum des Anspruchslosen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wer hätte das gedacht: die Illusion von Hochkultur, von „großer Literatur“, macht aus einem vielgelesenen Buch einen echten Bestseller.

Im  Film hat dieser Kunstgriff – anders als in der Belletristik – inzwischen jedes Genre gleichmäßig überzogen und durchdrungen wie ein Pilzgeflecht. Kein Leinwandcharakter darf sich seltsam benehmen, ohne dass uns erklärt wird, was er alles durchgemacht hat, um so zu werden, kein Missmut darf geschoben werden, ohne dass uns die Ursache präsentiert wird. Jeder Bösewicht ist aus einem bestimmten Grund wie er ist. Längst ist auch das Arthaus-Kino von dieser Tiefbrettbohrerei erfasst. Hier ist Heiterkeit insgesamt verächtlich. Das Programmheft des „Hamburger Filmfestes“ las sich zuletzt wie die Broschüre eines akutpsychiatrischen Sanatoriums.

Für Autoren bedeutet das faules Arbeiten, für den Konsumenten die Unterstellung, er sei ungehobelt und etwas begriffstutzig. Ich verbitte mir das! Selbst wenn es zuträfe, dass sich jede seelische oder charakterliche Verstimmung simpel begründen lässt, würde ich es doch vorziehen, mir diese Motivationen selbst ausmalen zu dürfen – oder es eben nicht zu tun. Doch selbst das Frankenstein-Monster muss in neueren Verfilmungen inzwischen grübeln und sein Gemütselend psychologisch hinterfragen.
Mag sich der Film dem Midcult auch am vollständigsten ausgeliefert haben, auf dem Buchmarkt tragen die Auswüchse der Pseudo-Bedeutsamkeit die prächtigsten Blüten. Hier gibt es ganze Karrieren, Lebenswerke und Verlagsprogramme, die darauf aufbauen, sozusagen ein Midcult-Superkonzentrat. Dazu zählen die beliebten True-Crime-Stories oder die Arbeiten von Sebastian Fitzek, der die lupenreine Formel des sadistischen Gewaltpornos für anständige Leser zu seinem Erfolgsmodell gemacht hat.

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