Lesung vom Blatt: Lange Sätze

betr.: Übung / Sprechen am Mikrofon

Fortsetzung vom 18. Februar 2023

Um das Anliegen zu unterstützen, den Vortrag langer Sätze zu trainieren, werden in dieser Rubrik Beispiele gereicht, die unverdächtig sind, den Satz nur aus Gründen der Effekthascherei auf seine Länge gebracht zu haben. Es geht um die Musik der Sprache!

Eine Fischvergiftung, eine beim Einschlafen brennende Zigarette, die das Bettzeug oder, schlimmer noch, die Wolle der Decke in Brand setzt; ein Ausrutscher in der Dusche – der Nacken – und eine von innen verriegelte Badezimmertür, ein Blitz, der in einer großen Allee einen Baum spaltet, und dieser wiederum zertrümmert den Kopf eines Passanten, eines Fremdlings vielleicht, oder schlägt ihn ab; mit Socken an den Füßen sterben oder beim Friseur mit einem großen Umhang oder in einem Freudenhaus oder beim Zahnarzt; oder beim Fischessen an einer Gräte, die sich querstellt, sich verschlucken und sterben wie Kinder, deren Mutter nicht da ist, um ihnen den Finger in den Hals zu stecken und sie zu retten; mitten in der Rasur sterben, mit einer Wange voll Schaum und einem für alle Zeiten ungleichen Bart, sofern niemand es bemerkt und die Arbeit aus Gründen der Pietät und der Ästhetik zu Ende führt; ganz zu schweigen von den unrühmlichsten Augenblicken des Daseins, den geheimsten, über die man außer in der Jugend nie spricht, weil es danach keinen Vorwand dafür gibt, wenngleich sich auch manche Leute mit einer witzigen Bemerkung Luft machen, die nie witzig ist.            
Javier Marias, „Morgen in der Schlacht denk an mich“ (Roman, 1994)

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