betr.: 102. Geburtstag von H. C. Artmann
„H. C. Artmann gilt vielen als der wohl charismatischste Dichter der österreichischen Neoavantgarde. Sein Verfahren, sich lustvoll poetische Stile, Traditionen und fremde Sprachen anzuverwandeln, ist unerreicht“, schrieb Alexandra Millner zu Artmanns 100. Geburtstag und verschlagwortete ihn weiterhin mit Begriffen wie “‘poetischer act‘, Dandyismus, Surrealismus, Schwarze Romantik, Populärkultur, Transkulturalität und Intermedialität“. Inzwischen wird Artmann außerdem als einer der wichtigeren Übersetzer des zum Kultautor aufgestiegenen H. P. Lovecraft geführt. Beim Lesen seiner, älterer und der inzwischen bei S. Fischer erschienen kommentierten Lovecraft-Bearbeitungen fiel mir etwas auf. Auch weniger glanzvolle Übertragungen früherer Zeiten – die also entstanden, als Lovecraft noch dem Schund zugerechnet und auf möglichst billiges Papier gedruckt wurde – lesen sich ebenso flüssig und farbenprächtig wie die edler edierten Neuauflagen. Hatten wir da einfach großes Glück? Oder ist es schlichtweg so, dass keine auch nur halbwegs professionell gefertigte Übersetzung Lovecrafts Material etwas anhaben kann, weil sein drastisches Genie immer durchsickert?
Ich habe es nicht eilig, das herauszufinden, und genieße es inzwischen, Lovecraft immer wieder neu zu lesen. Dass er sich bei H. C. Artmann in so guten Händen befindet, kann ja auch nichts schaden.
I. Das Basrelief
Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.
Und so liest sich die Lovecraft-Schlüsselpassage schlechthin – der Prolog zu “Cthulhus Ruf“ – bei Andreas Fliedner:
I. Das tönerne Grauen
Die größte Gnade, die uns die Natur hat zuteilwerden lassen, ist wohl das Unvermögen des menschlichen Geistes, alle seine Inhalte miteinander in Beziehung zu setzen.
Wir leben auf einer beschaulichen Insel der Unwissenheit inmitten schwarzer Ozeane der der Unendlichkeit, und es ist nicht unsere Bestimmung, weit hinauszusegeln. Die Wissenschaften, von denen jede in ihre eigene Richtung strebt, haben uns bislang wenig geschadet. Eines Tages jedoch wird man die verstreuten Wissensfragmente zusammenfügen, und es werden sich so erschreckende Ausblicke auf die Wirklichkeit eröffnen, dass wir angesichts der Offenbarung entweder den Verstand verlieren oder aus dem tödlichen Licht in die Ruhe und Sicherheit eines neuen dunklen Zeitalters fliehen werden.
Dies ist die betreffende Passage in den Worten von Christoph Springinsfeld:
I. Das Grauen aus Ton
Die größte Gnade in der Welt ist meiner Meinung nach die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, alle ihre Bestandteile miteinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer ruhigen Insel der Ahnungslosigkeit inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es war nie vorgesehen, dass unsere Reise lange dauern sollte. Die Wissenschaften, von denen jede in ihre eigene Richtung strebt, haben uns bisher wenig geschadet; aber eines Tages wird das Zusammensetzen von getrennten Wissen so erschreckende Perspektiven auf die Wirklichkeit und unsere hoffnungslose Stellung darin eröffnen, dass uns entweder die Offenbarung in den Wahnsinn treibt oder wir vor dem tödlichen Licht in den Frieden und in die Sicherheit eines neuen dunklen Zeitalters fliehen werden.
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I. The Horror in Clay
The most merciful thing in the world, I think, is the inability of the human mind to correlate all its contents. We live on a placid island of ignorance in the midst of black seas of infinity, and it was not meant that we should voyage far. The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.