Das Wild nicht aufscheuchen

Lesen einer Tierdokumentation

Beim Lesen des Off-Textes einer Tierreportage versetzen wir uns am besten in die Lage des heimlichen Beobachters, der die beschriebenen Vorgänge dokumentiert. Wir sprechen präsent, aber diskret (halblaut, ohne zu flüstern) und identifizieren uns mit dem Forscher, der sich bei der Formulierung seines Berichtes möglichst unauffällig verhält, um die Abläufe nicht zu stören und das Verhalten seines Gegenstandes nicht zu beeinflussen.
Dieser Duktus hat sich in allen Spielarten solcher Naturfilme unabhängig von der erforschen Gattung (Großwild oder Insekt) bewährt. Die Ideale Verbindung mit dem Zuhörer stellt sich ein, wenn dieser das Gefühl hat, gemeinsam mit dem Erzähler auf der Lauer zu liegen und zu beobachten. Zum Beispiel hier:

Die Aga-Kröte bevorzugt den Bereich unterhalb von Lichtquellen, denn das Licht zieht Mücken und andere Insekten an. Die Kröte lauert ihrer Beute unterhalb der Lichtquelle auf, um sie dann zu verschlucken. Man könnte ihre Vorgehensweise mit der des uns allen bekannten Staubsaugers vergleichen. Eine Analyse ihres Mageninhalts hat ergeben, dass sie so gut wie alles frisst, was dazu klein genug ist – angefangen von Fröschen über kleine Vögel bis zu Raupen, Insekten, Krebsen und anderen Kleinlebewesen. Eine andere Untersuchung hat gezeigt, dass die Kröte sogar einen Tischtennisball fressen würde, den man vor ihr auf und ab hüpfen lässt. Das wichtigste für Aga-Kröten bei ihren Mahlzeiten ist also, dass sich das Objekt ihrer Begierde bewegt.

Dieser Vortragsgestus ist so einleuchtend und uns allen so vertraut, dass wir ihn sogar parodistisch einsetzen können.
Der Folgende Text von René Goscinny beschreibt die Naturgesetze der Grundschule und parodiert dabei die Tierdokumentation: die Klasse ist ein archaisches System, der Klassenraum ein Dschungel, vom Lehrer geht Gefahr aus etc.
Besonders gut funktioniert dieser Text, wenn man ihn mit genau dieser Haltung liest: man hat neben dem Zuhörer in der letzten Reihe platzgenommen, um – unbemerkt von den natürlichen Bewohnern dieses Lebensraumes – seine Erfahrungen weiterzugeben.

Bei Schulbeginn ist es extrem wichtig, sich den auszusuchen, der das ganze Jahr über deinen Tisch, dein Pult, deine Schulbank mit dir teilen wird. Wenn Du die Bildungsstätte, an der du dich befindest, schon vorher besucht hast, kennst du alle guten Schüler. Natürlich ist ein guter Schüler ein höchst nützlicher Nachbar, weil ein bisschen von seinem Prestige und Wissen auch auf dich abfärbt. Nur aufgepasst! Wenn der gute Schüler eine Brille mit dicken Gläsern trägt, schreibt er tief über das Heft gebeugt, was dich daran hindert, an seinem Wissen teilzuhaben. Weil er schlecht sieht, wird er außerdem in die erste Reihe gesetzt, direkt vor die Nase des Lehrers, was sich unter Umständen als nachteilig erweist, insbesondere wenn du von Natur aus verträumt bist und gerne einer ständigen Kontrolle entgehst. Wenn du allerdings selbst eine starke Brille trägst oder ein guter Schüler bist, berühren dich solche Sorgen natürlich nicht. Such dir auf keinen Fall einen hoch gewachsenen Mitschüler aus. Wenn die ganze Klasse, was mitunter vorkommt, von einem Lachanfall gepackt wird, bildet sein über alle Kameraden herausragendes prustendes Gesicht ein ideales Ziel für den Lehrer, der dazu neigt, nicht lange zu fackeln: „Ihr beiden da hinten! Ist wohl bald Schluß?“

(Unteres Textbeispiel entnommen aus : „Das Buch von Goscinny“, Ehapa Comic Collection 2003)

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