Geistiger Diebstahl im Sinne des Urhebers

betr.: Begriffserklärungen „Bootleg“ (Raubkopie) und „verschollenes Album“

Der Filmkomponist Bernard Herrmann wurde einmal gefragt, wie er dazu steht, dass von einigen seiner und anderer Soundtracks Raubkopien hergestellt und gehandelt würden. Es war die Zeit, als nur die wenigsten sinfonischen Filmmusiken (jenseits der Titelsongs) überhaupt auf Tonträger veröffentlicht wurden, und wenn dies doch geschah, dann waren auf den LPs nur Teile der Musik zu hören, nicht selten in kleineren Arrangements und / oder im Sinne der Gehörgängigkeit des angenommenen Käufergeschmacks verpoppten Single-Edits.
Herrmann hatte jedenfalls kein Problem mit solchen unerlaubten Sammlerstücken, schon weil sie seiner Intention zwangsläufig nahekamen. Er antwortete auf die eingangs gestellte Frage: „Ich wäre froh, wenn die Piraten meine Oper veröffentlichen würden!“
Ein halbes Jahrhundert später haben sich die Kopier- und Rezeptionswege der (Film-)Musik an sich ebenso verändert wie die Musik selbst. Die im jeweiligen Film verwendeten Master-Tapes von Herrmann und seinen Kollegen erlebten in den 90er Jahren eine Hochphase in Sammlerkreisen: auf nunmehr von privater Hand herstellbaren CD-Raubkopien.

Bis in unsere Ära der scheinbar (!) grenzenlosen Verfügbarkeit von praktisch allem, was der User hören möchte, besteht der Mythos des Unveröffentlichten, Verschollenen oder bewusst Zurückgehaltenen fort. Viele Produktionen und Konzertmitschnitte warten in den Tresoren und Nachlässen von Musikern und Produzenten und in Rundfunkarchiven auf ihre Freilassung: eine nachträgliche Veröffentlichung, eine Ausstrahlung in den linearen Medien oder schlicht eine Sicherheitslücke, durch die eine Kopie entweichen kann.
Der „Spiegel“* sieht im Phänomen des „verschollenen Albums“ Aufnahmen, die dem Publikum so entzogen sind „wie etwa das Bernsteinzimmer oder Aristoteles’ Ausführungen zum Genre der Komödie (…) – etwas Legendäres, das nur in Abbildungen oder Bruchstücken überliefert  und ansonsten dem Genuss und der Analyse entzogen ist.“ So „sind ‚You’re The Man‘ von Marvin Gaye oder ‚Rubberland‘ von Miles Davis (…) nie erschienen. Die Gründe reichen von stilistischen Differenzen mit der Plattenfirma bis zu künstlerischen Differenzen mit sich selbst. Früher oder später wurde, woran da gearbeitet worden war, als Raubkopie doch einem zahlenden Publikum zugänglich gemacht.

Der Sex-Appel des Verschwundenen

Die Volkswirtschaft lehrt, dass das knappe Gut besonders teuer gehandelt wird. Verschwundenes ist folglich unbezahlbar. Das gilt besonders für musikalisches Material, dessen Obskurität die Nachfrage in schwindelnde Höhen treibt – und dort bisweilen über Jahrzehnte hält. Qualität spielt dabei nur eine nachgeordnete Rolle. Was nie erschienen ist, kann unmöglich überbewertet werden. Deshalb ist das ‚verschollene Album‘ gewissermaßen ein Genre für sich. Es ist der Stoff, aus dem Mythen sind. Legenden, die man sich im Schein der Lavalampe erzählt. Geschichten, an denen sich die Fantasie entzündet. Welche Richtung hätte die Popgeschichte genommen, wenn ‚Smile‘ von den ‚Beach Boys‘ 1967 seine ganze Pracht entfaltet hätte? Wie hätte 1986 ‚Dream Factory‘ von Prince gewirkt, wenn es anstelle von ‚Sign O‘ The Times‘ erschienen wäre? Solche Fragen sind müßig, machen aber Spaß – nicht selten mehr als ihr Gegenstand, wenn er dann doch noch veröffentlicht wird.“
Vor solchen Enttäuschungen waren Soundtrack-Sammler sicher – zumindest, wenn sie den Film gesehen hatten.

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* Arno Frank in der Ausgabe 32/2023

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3 Antworten zu Geistiger Diebstahl im Sinne des Urhebers

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